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»Ich fang an, müd zu sein des Sonnenlichts,

Ach, stürze gleich der Weltenbau zu nichts!«

Es sieht sehr heroisch aus: Man weist jeden Trost weit von sich – und übersieht, daß in dieser Haltung selbst der giftigste, gefährlichste und lasterhafteste Trost liegt. Die perverse Wollust der Selbstaufgabe, eine wagnerianische Todes– und Untergangsgeilheit – genau das ist die umfassendste Tröstung, die sich dem Geschlagenen anbietet, der nicht die Kraft aufbringt, seine Niederlage als seine Niederlage zu ertragen. Ich wage zu prophezeien, daß dies die Grundhaltung Deutschlands nach dem verlorenen Nazikriege sein wird – das wilde bockige Heulen eines pathologischen Kindes, das den Verlust seiner Puppe begierig mit dem Weltuntergang gleichsetzt.

(Viel davon war bereits in der deutschen Haltung nach 1918.) 1933 drang wenig davon in die, sozusagen, »öffentliche« Haltung – wie von alledem, was damals in den Seelen der geschlagenen Mehrheit vorging; denn offiziell war ja keiner geschlagen, offiziell gab es ja nur Jubel, Aufstieg,

»Befreiung«, »Erlösung«, Heil und rauschende Einigkeit, und das Leiden hatte den Mund zu halten.

Dennoch war diese typische deutsche Verliererhaltung nach 1933 sehr häufig; ich allein bin ihr in soviel individuellen Fällen begegnet, daß ich glaube, man darf die Gesamtzahl ihrer Vertreter ruhig mit Millionen ansetzen.

Es ist schwer, allgemein zu sagen, welches die realen, äußeren Konsequenzen dieser inneren Haltung sind. In manchen Fällen führt sie zum Selbstmord. Sehr viel mehr Menschen aber richten sich darauf ein, damit weiterzuleben; mit verzerrten Gesichtern sozusagen. Sie bilden, leider, die Mehrzahl unter denen, denen man in Deutschland als Vertretern einer sichtbaren »Opposition«

begegnet, und es ist daher kein Wunder, daß diese Opposition nie Ziele, Methoden, Pläne und Aussichten entwickelt hat. Die Leute, die sie in der Hauptsache verkörpern, gehen herum und

»greueln«. Das Entsetzliche, das geschieht, ist allmählich die unentbehrliche Nahrung ihres Geistes geworden; das einzige, düstere Vergnügen, das ihnen geblieben ist, ist die schwelgerische Ausmalung der Furchtbarkeiten, und es ist unmöglich, eine Unterhaltung mit ihnen zu führen, die nicht hierin besteht. Es ist nachgerade mit vielen unter ihnen dahin gekommen, daß ihnen etwas fehlen würde, wenn sie dies nicht mehr hätten, und bei manchen hat sich die pessimistische Verzweiflung geradezu in eine Art Behaglichkeit umgesetzt. Im allgemeinen freilich ist auch dies eine Art, »gefährlich zu leben«; es greift die Galle an, es führt ins Sanatorium und nicht selten zu wirklichem Wahnsinn. Und ein schmaler Seitenweg führt schließlich auch von hier aus zum Nazitum: Wenn doch schon alles egal, alles verloren, alles des Teufels ist, warum dann nicht, mit dem traurigsten und wütendsten aller Zynismen, selber sich zu den Teufeln schlagen; warum nicht, mit innerem Hohngelächter, alles mitmachen? Auch das gibt es.

Noch von einer dritten Versuchung muß ich sprechen. Es ist die, mit der ich es selber zu tun hatte, und wiederum ganz und gar nicht als Vereinzelter. Ihr Ausgangspunkt ist gerade die Erkenntnis der vorigen: Man will sich nicht durch Haß und Leiden seelisch korrumpieren, man will gutartig, friedlich, freundlich, »nett« bleiben. Wie aber Haß und Leiden vermeiden, wenn täglich, täglich das auf einen einstürmt, was Haß und Leiden verursacht? Es geht nur mit Ignorieren, Wegsehen, Wachs in die Ohren tun, Sich–Abkapseln. Und es führt zur Verhärtung aus Weichheit und schließlich wieder zu einer Form des Wahnsinns: zum Realitätsverlust.

Sprechen wir einfachheitshalber von mir, aber vergessen wir nicht, daß mein Fall wiederum durchaus mit einem sechs– oder siebenstelligen Multiplikator zu multiplizieren ist.

Ich habe kein Talent zum Haß. Ich habe immer zu wissen geglaubt, daß man schon durch ein zu tiefes Sich–Einlassen in Polemik, Streiten mit Unbelehrbaren, Haß auf das Häßliche etwas in sich selber zerstört – etwas, das wert zu erhalten, und schwer wiederherzustellen ist. Meine natürliche Geste der Ablehnung ist Abwendung, nicht Angriff.

Auch habe ich ein sehr deutliches Gefühl für die Ehre, die man einem Gegner antut, wenn man ihn des Hasses würdigt – und genau dieser Ehre schienen mir die Nazis nicht würdig. Ich scheute die Intimität mit ihnen, die schon der Haß auf sie mit sich bringt; und als die stärkste persönliche Beleidigung, die sie mir antaten, empfand ich nicht so sehr ihre zudringlichen Aufforderungen mitzumachen – die lagen außerhalb der Dinge, an die man irgendeinen Gedanken oder irgendein Gefühl wendet – als die Tatsache, daß sie mich täglich durch ihre Unübersehbarkeit zwangen, Haß und Ekel zu empfinden, wo doch Haß und Ekel mir so gar nicht »liegen«.

War nicht eine Haltung möglich, in der man zu nichts, zu gar nichts gezwungen wurde – nicht einmal zu Haß und Ekel? Gab es nicht die Möglichkeit einer souveränen, ungestörten Verachtung, eines

»Sieh hin und geh vorüber«? Und sei es auch auf Kosten des halben, meinetwegen des ganzen äußeren Lebens?

Gerade damals begegnete ich einem gefährlichen, verlockend–zweideutigen Ausspruch Stendhals.

Er schrieb ihn programmatisch nieder, nach einem Zeitereignis, das er genau so als »Sturz in den Dreck« empfand wie ich den Vorgang vom Frühjahr 1933 – nach der Restauration von 1814. Nur eins gebe es jetzt, so schrieb er, was wert sei, noch Aufmerksamkeit und Mühe darauf zu verwenden: »das Ich heilig und rein zu erhalten«. Heilig und rein! Das hieß, daß man sich nicht nur von jeder Mittäterschaft frei zu halten hatte: sondern auch von jeder Verheerung durch den Schmerz und jeder Entstellung durch den Haß – von jeder Einwirkung kurzweg, von jeder Reaktion, von jeder Berührung, selbst der, die im Zurückstoßen besteht. Abwendung – Rückzug auf das schmalste Fleckchen, wenn es sein muß, vorausgesetzt nur, daß keine Pestluft dorthin gelangt, und daß man das einzige unversehrt retten kann, auf dessen Rettung es ankommt; nämlich, um ihm seinen guten alten theologischen Namen zu geben, seine unsterbliche Seele.

Ich glaube noch heute, daß an diesem Ausgangspunkt etwas richtig ist, und ich verleugne ihn nicht.

Aber freilich, so wie ich es mir damals dachte, mit einfachem Ignorieren und Rückzug in den Elfenbeinturm, ging es nicht, und ich danke Gott dafür, daß mir der Versuch rasch und gründlich mißlang. Ich kenne andere, denen er nicht so schnell mißlang, und die die Erkenntnis, daß man mitunter seinen Seelenfrieden nur retten kann, indem man ihn opfert und preisgibt, sehr, sehr teuer haben bezahlen müssen.

Im Gegensatz zu den beiden ersten Formen von Ausweichen hat diese in den folgenden Jahren in Deutschland eine Art von öffentlichem Ausdruck gefunden, und zwar in einer heftig und vielfältig aufschießenden Idyllenliteratur. Es ist in der Welt, selbst in literarischen Kreisen, nur wenig bemerkt worden, daß in Deutschland in den Jahren 1934 bis 1938 so viele Kindheitserinnerungen, Familienromane, Landschaftsbücher, so viel Naturlyrik, so viele zarte und zärtliche Sächelchen und Spielereien geschrieben worden sind wie nie vorher. Was neben der abgestempelten nazistischen Propagandaliteratur in Deutschland noch veröffentlicht worden ist, liegt fast ausschließlich auf diesem Gebiet. Seit etwa zwei Jahren ist es freilich im Abflauen, offenbar weil die nötige Harmlosigkeit allmählich auch mit der größten Anstrengung nicht mehr aufzubringen ist. Aber vorher war es einfach unheimlich. Eine ganze Literatur voller Herdenglöckchen und Gänseblümchen, voller Große–Ferien–Kinderglück und erster Liebe und Märchenduft und Bratäpfeln und

Weihnachtsbäumen, eine Literatur von geradezu penetranter Innerlichkeit und Zeitlosigkeit, wie auf Verabredung massenhaft hergestellt inmitten von Aufmärschen, Konzentrationslagern,

Munitionsfabriken und Stürmerkästen. Wer, wie der Verfasser dieses, zufällig diese Bücher in einer gewissen Massierung zu lesen hatte, fühlte sich al mählich in aller Feinfühligkeit, Leisheit und Zärtlichkeit geradezu angeschrien von ihnen. »Merkst du nicht«, schrie es zwischen ihren Zeilen,