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Vieles hat dem Nazismus später geholfen und sein Wesen modifiziert. Aber hier liegt seine Wurzeclass="underline" nicht etwa im »Fronterlebnis«, sondern im Kriegserlebnis des deutschen Schuljungen. Die Frontgeneration hat ja im ganzen wenig echte Nazis geliefert und liefert heute noch im wesentlichen die »Nörgler und Meckerer«; sehr verständlich, denn wer den Krieg als Wirklichkeit erlebt hat, bewertet ihn meistens anders. (Ausnahmen zugegeben: die ewigen Krieger, die in der Wirklichkeit des Krieges mit allen Schrecken dennoch ihre Lebensform fanden und immer wieder finden – und die ewigen »gescheiterten Existenzen«, die gerade die Schrecken und Zerstörungen des Krieges mit Jubel erlebten und erleben, als eine Rache an dem Leben, dem sie nicht gewachsen sind. Zum ersten Typ gehört vielleicht Göring; zum zweiten bestimmt Hitler.) Die eigentliche Generation des Nazismus aber sind die in der Dekade 1900 bis 1910 Geborenen, die den Krieg, ganz ungestört von seiner Tatsächlichkeit, als großes Spiel erlebt haben.

– Ganz ungestört! Man wird einwenden, daß sie immerhin gehungert haben. Das ist richtig; aber ich habe schon erzählt, wie wenig der Hunger das Spiel störte. Vielleicht begünstigte er es sogar. Satte und gutgenährte Menschen neigen nicht zu Visionen und Phantasien ... auf jeden Falclass="underline" Der Hunger allein desillusionierte nicht. Es wurde, sozusagen, verdaut. Was übrig geblieben ist, ist sogar eine gewisse Abhärtung gegen Unterernährung – vielleicht einer der sympathischeren Züge dieser Generation.

Wir sind sehr früh daran gewöhnt worden, mit einem Minimum von Essen auszukommen. Die meisten jetzt lebenden Deutschen haben dreimal eine unterdurchschnittliche Ernährung gehabt: das erste Mal im Kriege, das zweite Mal in der Hochinflation, das dritte Mal jetzt, unter dem Motto

»Kanonen statt Butter«. Sie sind in dieser Hinsicht, sozusagen, trainiert, und nicht besonders anspruchsvoll.

Es ist mir sehr zweifelhaft, ob die weitverbreitete Ansicht stimmt, daß die Deutschen den Weltkrieg aus Hunger abgebrochen hätten. Sie hungerten 1918 schon drei Jahre lang, und 1917 war ein schlimmeres Hungerjahr gewesen als 1918. Meiner Meinung nach brachen die Deutschen den Krieg ab, nicht weil sie hungerten, sondern weil sie ihn als militärisch verloren und aussichtslos ansahen.

Wie dem auch sei – die Deutschen werden jedenfalls kaum den Nazismus oder den zweiten Weltkrieg aus Hunger abbrechen. Sie finden heute, daß Hungern halb und halb eine sittliche Pflicht und jedenfalls nicht so schlimm ist. Sie sind nachgerade ein Volk geworden, das sich seiner natürlichen Eßbedürfnisse geradezu geniert, und paradoxerweise gewinnen die Nazis aus der Tatsache, daß sie dem Volk nichts zu essen geben, nebenbei sogar noch ein indirektes Propagandamittel.

Sie schieben nämlich jedem, der »schimpft«, öffentlich als Motiv unter, er schimpfe, weil er keine Butter und keinen Kaffee bekomme. Nun wird zwar sehr viel in Deutschland »geschimpft«, aber die meisten schimpfen aus ganz anderen – und tatsächlich meist weit ehrenvolleren – Gründen als wegen der schlechten Ernährung, und sie würden sich schämen, wegen der schlechten Ernährung zu schimpfen. Es wird weit weniger in Deutschland gerade über die Nahrungsmittelknappheit geschimpft, als man nach der Lektüre der Naziblätter glauben sollte. Die Naziblätter wissen aber recht gut, was sie tun, wenn sie das Gegenteil glauben machen: Denn ehe der unzufriedene Deutsche in den Ruf kommen will, er sei aus niederer Eßgier unzufrieden, verstummt er ganz.

Wie gesagt übrigens, ich halte das für einen der sympathischeren Züge der gegenwärtigen Deutschen.

5

Ich verlor während der vier Kriegsjahre allmählich das Gefühl dafür, wie und was der Frieden sein könne. Meine Erinnerung an die Zeit vor dem Kriege verblaßte allmählich. Ich konnte mir einen Tag ohne Heeresbericht nicht mehr vorstellen. Ein solcher Tag hätte auch seinen Hauptreiz entbehrt.

Was bot denn der Tag sonst schon? Man ging zur Schule, man lernte Schreiben und Rechnen und später Latein und Geschichte, man spielte mit Freunden, man ging mit seinen Eltern spazieren, aber war das ein Lebensinhalt? Was dem Leben Spannung und dem Tag seine Farbe gab, waren die jeweiligen militärischen Ereignisse. War eine große Offensive im Gange, mit fünfstelligen Gefangenenzahlen und gefallenen Festungen und »unermeßlicher Ausbeute an Kriegsmaterial«, dann war Festzeit, man hatte unendlichen Stoff für die Phantasie, und das Leben ging hoch, ganz ähnlich, wie später, wenn man verliebt war. Waren nur langweilige Abwehrkämpfe, »im Westen nichts Neues«, oder gar »planmäßig durchgeführter strategischer Rückzug«, dann war das ganze Leben angegraut, die Kriegsspiele mit den Kameraden ohne Reiz und die Schularbeiten doppelt langweilig.

Jeden Tag ging ich zu einem Polizeirevier, ein paar Straßenecken von unserer Wohnung: Dort war an einem schwarzen Brett der Heeresbericht angeschlagen, schon mehrere Stunden, ehe er in der Zeitung stand. Ein schmales weißes Blatt, manchmal länger, manchmal kürzer, mit tanzenden Majuskeln besät, die aus einer offenbar reichlich abgenutzten Vervielfältigungsmaschine stammten.

Ich mußte mich etwas auf die Zehenspitzen stellen und den Kopf in den Nacken legen, um alles zu entziffern. Ich tat es geduldig und voll Hingabe, jeden Tag.

Wie gesagt, ich hatte keine rechte Vorstellung mehr vom Frieden, wohl aber hatte ich eine Vorstellung vom »Endsieg«. Der Endsieg, die große Summe, zu der sich alle die vielen Teilsiege, die der Heeresbericht enthielt, unvermeidlich einmal zusammenaddieren mußten, war für mich damals ungefähr das, was für den frommen Christen das Jüngste Gericht und die Auferstehung des Fleisches ist, oder für den frommen Juden die Ankunft des Messias. Es war eine unvorstellbare Steigerung aller Siegesnachrichten, in der die Gefangenenzahlen, Landeroberungen und Beuteziffern vor Ungeheuerlichkeit sich selber aufhoben. Danach war nichts mehr vorzustellen. Ich wartete mit einer gewissen wilden und doch zagen Spannung auf den Endsieg; daß er einmal kam, war unvermeidlich. Fraglich war nur, was das Leben danach noch zu bieten haben konnte.

Ich wartete tatsächlich auf den Endsieg auch noch in den Monaten Juli bis Oktober 1918, obwohl ich nicht so töricht war, nicht zu merken, daß die Heeresberichte trüber und trüber wurden und daß ich nachgerade gegen alle Vernunft wartete. Immerhin, war nicht Rußland geschlagen? Besaßen »wir«

nicht die Ukraine, die alles liefern würde, was nötig war, um den Krieg zu gewinnen? Standen »wir«

nicht immer noch tief in Frankreich?

Unüberhörbar wurde es zwar auch mir in dieser Zeit, daß viele, sehr viele, ja fast alle Leute sich mit der Zeit eine andere Ansicht vom Kriege gebildet hatten als ich, obwohl meine Ansicht doch ursprünglich diejenige aller gewesen war – sie war doch erst meine geworden, eben weil sie die allgemeine war! Überaus ärgerlich, daß gerade jetzt fast alle die Lust am Kriege verloren zu haben schienen – gerade jetzt, wo eine kleine Sonderanstrengung nötig gewesen wäre, um die Heeresberichte aus der trüben Depression »vereitelter Aufrollungsversuche« und »planmäßiger Zurücknahme in vorbereitete Riegelstellungen« wieder in die strahlende Schön–Wetter–Sphäre von

»Vorstoß bis zu 30 Kilometer Tiefe«, »das feindliche Stellungssystem zertrümmert«, »30000

Gefangene« zu bringen!

Von den Läden, wo ich nach Kunsthonig oder Magermilch anstand – denn meine Mutter und das Dienstmädchen konnten es allein nicht mehr schaffen, und auch ich mußte mich gelegentlich anstellen – hörte ich die Frauen grollen und häßliche Worte tiefsten Unverständnisses äußern. Nicht immer begnügte ich mich, es anzuhören: Ich erhob furchtlos meine noch ziemlich hohe

Kinderstimme zu Vorträgen über die Notwendigkeit des »Durchhaltens«. Die Frauen lachten meist zunächst, wunderten sich dann, und wurden rührenderweise mitunter unsicher oder gar kleinlaut.

Siegreich verließ ich die Stätte des Redekampfes, selbstvergessen einen Viertelliter Magermilch schwenkend... Aber die Heeresberichte wollten nicht besser werden.