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»merkst du nicht, wie zeitlos und innerlich wir sind? Merkst du nicht, wie nichts uns etwas anhaben kann? Merkst du nicht, wie wir nichts merken? Merk es doch, merk es doch, wir bitten dich!«

Ich habe auch einige von den Dichtern persönlich gekannt. Für jeden von ihnen, oder doch fast jeden, ist inzwischen irgendwann ein Zeitpunkt gekommen, wo es nicht mehr ging; irgendein Ereignis, das mit allem Wachs in den Ohren nicht mehr zu überhören war; eine Verhaftung im nächsten Bekanntenkreis etwa, oder Ähnliches. Keine Kindheitserinnerungen schützten mehr dagegen. Das gab dann beträchtliche Zusammenbrüche. Es sind traurige Geschichten. Die eine oder andere werde ich vielleicht noch zu ihrer Zeit erzählen.

Das waren so die Konflikte der Deutschen im Sommer 1933. Sie sahen ein bißchen so aus wie die Auswahl zwischen verschiedenen seelischen Todesarten, und jemand, der sein Leben in normalen Umständen verbracht hat, mag sich schon hier ein wenig wie in einem Irrenhaus vorkommen, oder, sagen wir, in einer psycho–pathologischen Versuchsanstalt. Aber, was hilft es: Es war so, und ich kann es nicht ändern. Es waren übrigens noch verhältnismäßig harmlose Zeiten. Es kommt noch ganz anders.

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Mir also mißlang der Versuch, mich in einem kleinen, geschützten, privaten Bezirk abzukapseln, sehr rasch, und zwar aus dem Grunde, daß es einen solchen Bezirk nicht gab. In mein Privatleben bliesen sehr schnell von allen Seiten die Winde hinein und bliesen es auseinander. Von dem, was ich etwa meinen »Freundeskreis« hätte nennen können, war bis zum Herbst 1933 nichts mehr übrig.

Es gab da etwa eine kleine »Arbeitsgemeinschaft«, bestehend aus sechs intellektuellen jungen Leuten, alle Referendare, alle kurz vor dem Assessorexamen stehend, alle aus derselben Schicht; ich war einer von ihnen. Wir bereiteten uns zusammen auf das Examen vor, das war der äußere Anlaß, aus dem sich die Gruppe gebildet hatte; aber sie war längst darüber hinausgewachsen und bildete einen kleinen, intimen Debattierclub. Wir hatten sehr verschiedene Ansichten, aber wir wären nie darauf gekommen, uns deswegen zu hassen. Wir mochten uns alle recht gern. Auch konnte man nicht sagen, daß die Ansichten sich einfach frontal gegenüberstanden; sie bildeten eher – sehr typisch für das intellektuelle junge Deutschland von 1932 – einen Kreis, und die scheinbar entferntesten Enden berührten sich wieder.

Am meisten »links« war zum Beispiel Hessel, ein Arztsohn mit kommunistischen Sympathien, am meisten »rechts« Holz, ein Offizierssohn, der militärisch und nationalistisch dachte. Aber beide machten auch oft wieder gemeinsame Front gegen uns andere – denn beide kamen irgendwoher aus der »Jugendbewegung«, beide dachten »bündisch«, beide waren antibürgerlich und

antiindividualistisch; beiden schwebte ein Ideal von »Gemeinschaft« und »Gemeinschaftsgeist« vor, für beide waren das eigentliche rote Tuch Jazzmusik, Modejournale, »Kurfürstendamm«, kurz die Welt des leichtfertigen Geldverdienens und Geldausgebens, und beide hatten eine kleine heimliche Liebe zum Terror, die bei dem einen mehr humanitär, bei dem andern mehr nationalistisch verkleidet war. Wie ähnliche Anschauungen ähnliche Gesichter formen, hatten denn auch beide etwas leicht Steifes, Dünnlippiges und Humorloses an sich, und beide hatten übrigens die größte Achtung voreinander. Ritterlichkeit verstand sich überhaupt, so schien es, unter uns von selbst.

Zwei andere Gegner, die sich gut verstanden – und aus diesem Verständnis heraus manchmal gemeinsame Front jeder gegen seine Bundesgenossen machten – waren Brock und ich. Wir waren beide noch schwerer in der politischen Skala unterzubringen als Hessel und Holz. Brocks politische Ansichten waren revolutionär und extrem nationalistisch, während ich konservativ und extrem individualistisch empfand – aus dem Ideenvorrat der »Rechtem und der »Linken« hatten wir jeder uns genau das Gegenteil herausgepickt. Und dabei gab es doch etwas, das uns einte: Im Grunde waren wir beide Ästheten, und beide beteten wir unpolitische Götter an. Brocks Gott war das Abenteuer, und zwar das kollektive Abenteuer, Stil 1914–18 oder 1923, am liebsten beides vereint; mein Gott war der Gott Goethes und Mozarts – man verzeihe mir, daß ich im Augenblick keinen Namen für ihn nenne. Wir waren also wohl oder übel in all und jedem Gegner, aber Gegner, die sich mitunter zuzwinkerten. Wir konnten auch recht gut zusammen trinken. Was Hessel betraf, so trank er überhaupt nicht, er war grundsätzlich gegen Alkohol, und Holz trank so verzweifelt maßvoll, daß es eine Schande war.

Dann gab es zwei Vermittlernaturen, Hirsch, Sohn eines jüdischen Universitätsprofessors, und von Hagen, Sohn eines sehr hohen Ministerialbeamten. Von Hagen war der einzige unter uns, der politisch organisiert war: Er gehörte der Deutschen Demokratischen Partei und dem Reichsbanner an; das hinderte ihn aber nicht, sondern prädestinierte ihn sogar im Gegenteil dazu, nach allen Seiten zu vermitteln und für alle Ansichten Verständnis zu haben; auch war er die verkörperte gute Erziehung, geradezu ein Virtuose des Takts und der guten Manieren. Keine Diskussion in seiner Gegenwart konnte in Streit ausarten. Hirsch sekundierte ihm. Seine Spezialitäten waren sanfte Skepsis und versuchsweiser Antisemitismus. Ja, er hatte eine Schwäche für die Antisemiten und versuchte ihnen immer wieder eine Chance zu geben; ich erinnere mich eines Gesprächs zwischen uns beiden, in dem er ganz ernsthaft den antisemitischen Part übernahm und ich, damit es doch wenigstens ein Gleichgewicht gäbe, den antiteutonischen. So ritterlich ging es bei uns zu. Im übrigen taten Hirsch und von Hagen ihr möglichstes, um Holz und Hessel ein gelegentliches duldsames Lächeln abzunötigen und Brock und mir ein gelegentliches seriöses »Bekenntnis«, und um zu verhindern, daß Holz und ich, oder Hessel und Brock einander das Heiligste zerstörten (nur in diesen Kombinationen war so etwas möglich).

Ja, eine nette Gruppe hoffnungsvoller junger Leute; wer sie 1932 um einen runden Tisch rauchend und eifrig debattierend vereint gesehen hätte, hätte schwerlich geglaubt, daß ihre Angehörigen sich ein paar Jahre später schußbereit auf der Weltbarrikade gegenüberliegen würden. Denn heute, um das kurz festzustellen, sind Hirsch, Hessel und ich Emigranten, Brock und Holz sind hohe Nazifunktionäre, und von Hagen, Rechtsanwalt in Berlin, ist immerhin Mitglied des

Nationalsozialistischen Juristenbundes und des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps, vielleicht auch schon (bedauernd, aber man muß) der Partei. Man sieht freilich, daß er immer noch seiner Vermittlerrolle treu geblieben ist.

Von Anfang März ab etwa begann sich die Atmosphäre in unserer Gruppe zu vergiften. Es war plötzlich nicht mehr so leicht wie vorher, ritterlich–akademische Diskussionen über die Nazis zu führen. Es gab da eine höchst peinlich–angespannte Sitzung bei Hirsch kurz vor dem 1. April. Brock machte kein Hehl daraus, daß er das, was da im Anrollen war, mit einer gewissen angenehm erwärmten Amüsiertheit betrachtete, und er genoß die Überlegenheit, mit der er etwa feststellte, daß

»unter seinen jüdischen Freunden natürlich eine gewisse Nervosität herrschte«; die Organisation scheine einstweilen noch ziemlich miserabel, fand er übrigens, immer in demselben Ton, aber interessant sei es schon, wie so ein Massenexperiment klappe; es eröffne in jedem Fall die interessantesten Zukunftsaussichten. So etwa Brock, und es war schwer, ihm etwas zu sagen, worauf er nicht ein gewisses verwegenes Lächeln als Antwort bereit hatte. Holz wiederum meinte besonnen, es möchten zwar recht bedauerliche Einzelheiten bei so einem summarischen und improvisierten Verfahren unterlaufen, aber man dürfe doch nicht vergessen, daß die Juden usw.

usw. Unser Gastgeber Hirsch; auf diese Weise der Notwendigkeit überhoben, noch seinerseits die Partei der Antisemiten zu nehmen, saß stumm da und biß sich ein wenig die Lippen. Von Hagen wies taktvoll darauf hin, daß ja doch die Juden aber andererseits usw. Es war die schönste Unterhaltung über die Juden, und sie schleppte sich hin. Hirsch saß stumm dabei und bot gelegentlich Zigaretten herum. Hessel versuchte mit wissenschaftlichen Argumenten die Rassenlehre anzugreifen, und Holz verteidigte sie mit ebenso wissenschaftlichen Gegenargumenten, sehr pedantisch und sehr besonnen. »Schön, Hessel«, meinte er etwa, indem er langsam an seiner Zigarette sog, inhalierte, ausatmete und dem Rauch nachblickte, »in einem Menschheitsstaat, wie Sie ihn stillschweigend immer voraussetzen, mögen alle diese Probleme nicht existieren. Aber Sie werden doch zugeben müssen, daß im Rahmen der Aufrichtung eines nationalen Staatsgebildes, um die es sich im Augenblick allein handelt, die völkische Homogenität ...« Mir wurde allmählich schlecht, und ich beschloß, taktlos zu werden. »Was mir hier zur Debatte zu stehen scheint«, sagte ich, »scheint mir noch nicht einmal die Gründung eines Nationalstaats zu sein, sondern schlechtweg die persönliche Haltung jedes einzelnen von uns, nicht wahr? Darüber hinaus gibt es ja wohl augenblicklich nichts, worüber wir praktisch zu bestimmen haben. Was mich an Ihrer Haltung interessiert, Herr Holz, ist, wie Sie Ihre Ansichten mit Ihrem Aufenthalt in diesem Hause unter einen Hut bringen.« Nun war es an Hirsch, mir ins Wort zu fallen und zu betonen, er habe niemals seine Einladung an irgendeinen von uns davon abhängig gemacht, daß unsere Ansichten usw. »Gewiß,« sagte ich, ganz böse auch schon auf ihn, »es ist ja auch nicht Ihre Haltung, die ich kritisiere, sondern die unseres Herrn Holz.