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– mein Kopf faßte es nicht.

Ich las die Bedingungen wieder und wieder, den Kopf im Nacken, wie ich vier Jahre lang die Heeresberichte gelesen hatte. Schließlich löste ich mich aus der Menschenmenge und ging davon, ohne zu wissen, wohin ich ging. Die Gegend, in die ich auf der Suche nach Nachrichten geraten war, war mir fast fremd, und jetzt geriet ich in eine noch fremdere; ich trieb durch Straßen, die ich nie gesehen hatte. Ein feiner Novemberregen fiel.

Wie diese fremden Straßen, war mir die ganze Welt fremd und unheimlich geworden. Das große Spiel hatte offenbar außer seinen faszinierenden Regeln, die ich kannte, noch geheime Regeln besessen, die mir entgangen waren. Es mußte etwas daran scheinbar und falsch gewesen sein. Wo aber war ein Halt, wo Sicherheit, Glauben und Vertrauen, wenn das Weltgeschehen so hinterhältig war, wenn Siege und Siege zu endgültiger Niederlage führten und die wahren Regeln des Geschehens nicht verlautbart wurden, sondern sich erst nachträglich enthüllten, im

niederschmetternden Ergebnis? Ich blickte in Abgründe. Ich empfand ein Grauen vor dem Leben.

Ich glaube nicht, daß die deutsche Niederlage irgendjemandem einen tieferen Schock versetzt haben kann als dem elfjährigen Jungen, der da durch die novemberfeuchten fremden Straßen irrte, ohne zu merken, wo er ging, und ohne zu merken, wie ihn der feine Regen allmählich durchnäßte.

Ich glaube insbesondere nicht, daß der Schmerz des Gefreiten Hitler tiefer gewesen sein kann, der, ungefähr um dieselbe Stunde, im Pasewalker Lazarett es nicht aushielt, die Bekanntgabe der Niederlage mitanzuhören. Er reagierte zwar dramatischer als ich: »Mir wurde es unmöglich, noch länger zu bleiben,« schreibt er. »Während es mir um die Augen wieder schwarz ward, tastete und taumelte ich zum Schlafsaal zurück, warf mich auf mein Lager und grub den brennenden Kopf in Decke und Kissen.« Worauf er beschloß, ein Politiker zu werden.

Seltsamerweise eine weit kindlich–trotzigere Geste zugleich als meine. Und das gilt nicht nur für das Äußere. Wenn ich vergleiche, welche inneren Folgerungen Hitler und ich aus dem gemeinsam erlebten Schmerz zogen: der eine Wut, Trotz und den Beschluß, ein Politiker zu werden, der andere Zweifel an der Gültigkeit der Spielregeln und ahnendes Grauen vor der Unberechenbarkeit des Lebens – wenn ich dies vergleiche, kann ich mir nicht helfen: Ich finde die Reaktion des elfjährigen Jungen reifer als die des neunundzwanzigjährigen Mannes.

Jedenfalls stand es von diesem Augenblick an zweifellos in den Sternen, daß ich mit Hitlers Reich auf keinem freundlichen Fuß würde stehen können.

6

Vorerst hatte ich es ja aber nun nicht mit Hitlers Reich zu tun, sondern mit der Revolution von 1918

und mit der deutschen Republik.

Die Revolution wirkte auf mich und meine Altersgenossen gerade umgekehrt wie der Krieg: Der Krieg hatte unser wirkliches, tägliches Leben bis zur Langweiligkeit unverändert gelassen, dafür aber unserer Phantasie reichsten und unerschöpflichen Stoff gegeben. Die Revolution brachte viel Neues in die tägliche Wirklichkeit, und das Neue war bunt und aufregend genug – ich werde gleich davon erzählen –, aber sie ließ die Phantasie unbeschäftigt. Sie hatte nicht, wie der Krieg, sozusagen ein einfaches und einleuchtendes Dasein, in das man die Ereignisse einordnen konnte. Alle ihre Krisen, Streiks, Schießereien, Putsche, Demonstrationszüge blieben widerspruchsvoll und verwirrend. Nie wurde es recht klar, um was es eigentlich ging. Man konnte sich nicht begeistern. Man konnte nicht einmal verstehen.

Bekanntlich war die Revolution von 1918 keine vorausbedachte und geplante Operation. Sie war ein Nebenprodukt des militärischen Zusammenbruchs. Das Volk – wirklich das Volk! An Führung fehlte es fast vollständig – fühlte sich von seinen militärischen und politischen Führern hintergangen und verscheuchte sie. Verscheuchte; nicht einmaclass="underline" vertrieb. Denn auf die erste drohende und wegscheuchende Geste hin verschwanden alle, vom Kaiser abwärts, geräusch– und spurlos; ungefähr ebenso geräusch– und spurlos wie später, 1932/33, die Führer der Republik. Die deutschen Politiker von rechts bis links verstehen sich schlecht auf die Kunst des Verlierens.

Die Macht lag auf der Straße. Unter denen, die sie aufnahmen, befanden sich nur sehr wenige wirkliche Revolutionäre; und auch die hatten, wenn man es rückschauend betrachtet, wenig klare Vorstellungen von dem, was sie nun eigentlich wollten und wie sie es zustande bringen wollten (es ist schließlich doch nicht nur Pech, sondern auch ein Zeichen mangelnder Begabung, daß sie fast sämtlich binnen eines halben Jahres nach der Revolution abgeknallt waren).

Die meisten unter den neuen Machthabern waren verlegene Biedermänner, längst alt und bequem geworden in den Gewohnheiten loyaler Opposition, überaus bedrückt von der unerwartet in ihre Hände gefallenen Macht und ängstlich darauf bedacht, sie so bald wie möglich wieder auf gute Art loszuwerden.

Und schließlich gab es eine Anzahl Saboteure unter ihnen, die entschlossen waren, die Revolution

»aufzufangen«, will sagen: zu verraten. Der schauerliche Noske ist der bekannteste unter ihnen geworden.

Es entwickelte sich nun das Spiel, daß die wirklichen Revolutionäre eine Anzahl schlecht organisierter und dilettantischer Putsche machten, und die Saboteure gegen sie die Gegenrevolution auf den Plan riefen, die sogenannten »Freicorps«, die dann, als Regierungstruppen verkleidet, binnen ein paar Monaten mit der Revolution blutig aufräumten.

An diesem ganzen Schauspiel war beim besten Willen nichts Begeisterndes zu entdecken. Als bürgerliche Jungen, die obendrein eben erst unsanft aus einem vierjahrelangen patriotisch–

kriegerischen Rausch gerissen waren, konnten wir selbstverständlich nur »gegen« die roten Revolutionäre sein: gegen Liebknecht, Rosa Luxemburg und ihren »Spartakusbund«, von dem wir nur dunkel wußten, daß er uns »alles wegnehmen«, unsere Eltern, soweit sie wohlhabend waren, wahrscheinlich töten und überhaupt schreckliche, »russische« Zustände einführen wollte. Wir waren also, schlecht und recht, »für« Ebert und Noske und ihre Freicorps. Aber sich irgendwie für diese Gestalten zu erwärmen, war leider auch wieder unmöglich. Das Schauspiel, das sie boten, war zu offensichtlich widerlich. Das Aroma von Verrat, das ihnen anhaftete, war zu penetrant: Es drang bis in die Nasen der Zehnjährigen. (Ich möchte hier noch einmal betonen, daß die politische Reaktion von Kindern, historisch gesehen, durchaus beachtenswert ist: Was »jedes Kind weiß«, ist meist die letzte, unableugbarste Quintessenz eines politischen Vorgangs.) Es war irgendetwas faul daran, daß die martialischen und grausamen Freicorps – die wir vielleicht nicht ungern hätten Hindenburg und den Kaiser zurückholen sehen – mit Emphase für »die Regierung« kämpften: also für Ebert und Noske, Leute, die offensichtlich Verräter ihrer eigenen Sache waren und übrigens auch genau so aussahen.

Dazu kam noch, daß die Ereignisse, seit sie uns so nah auf den Leib gerückt waren, viel unübersichtlicher und schwerer zu verstehen waren als zuvor, solange sie im fernen Frankreich gespielt hatten und vom Heeresbericht täglich ins rechte Licht gesetzt worden waren. Jetzt hörte man zeitweise fast täglich schießen, aber man erfuhr keineswegs immer, was es bedeutete.

Den einen Tag gab es keine Elektrizität, am andern fuhren die Straßenbahnen nicht, aber es blieb undeutlich, ob man gerade den Spartakisten oder der Regierung zuliebe Petroleum brennen oder zu Fuß gehen mußte. Man bekam Flugzettel in die Hand gedrückt oder las Plakate mit der Überschrift

»Die Stunde der Abrechnung naht!«, und man mußte sich erst durch lange Absätze voller Beschimpfungen und unentwirrbarer Vorwürfe hindurchlesen, bis man merkte, ob mit den

»Verrätern«, »Arbeitermördern«, »gewissenlosen Volksverführern« usw. jeweils Ebert und Scheidemann oder Liebknecht und Eichhorn gemeint sein sollten. Demonstrationszüge sah man täglich. Die Demonstranten hatten damals die Gewohnheit, auf irgendwelche aus ihrer Mitte gleichsam ausgebrachten Toaste im Chor je nachdem »Hoch« oder »Nieder« zu rufen. Aus einiger Entfernung nun hörte man jeweils nur das tausendstimmige »Hoch« oder »Nieder« – die Solostimme, die das Stichwort gegeben hatte, war unhörbar aus der Entfernung; und so wußte man wiederum nicht, woran man war.