Der Ufersaum meines Teiches! Gerade vor mir schimmerte seine breite Fläche durch die spitzen Blätter des Weidengebüschs, und auf dem Wasser lagen noch hie und da flaumige Nebelschwaden. Rechts von ihm leuchtete in mattem Glanz das Roggenfeld, zur linken Seite aber ragten die Bäume meines Gartens regungslos und schlank empor und schienen nass zu sein... Morgenluft hatte sie angeweht. Am Grau des reinen Himmels zogen einige Wölkchen wie Streifen Rauch hin, ein kaum merkliches Gelb spielte auf ihnen, der erste leise Widerschein der Morgendämmerung. Die Sterne erloschen, es rührte sich nichts, obwohl in der verzauberten Stille des ersten Zwielichts alles Leben sich bereits zu regen begann.
"Der Morgen! Der Morgen ist da!" rief Ellis dicht an meinem Ohr: "Leb wohl! Auf morgen!"
Ich fuhr herum .. Sie schwebte sanft empor und vorbei - und mit einem Male warf sie beide Arme nach oben. Im gleichen Augenblick nahmen Kopf, Arme und Schultern die warme Farbe des irdischen Leibes an, lebendige Lichter schimmerten in ihren dunklen Augen, und ein süßes, verschwiegenes Lächeln bewegte ihre blühenden Lippen... Die schönste Frau war plötzlich vor mir... Gleich darauf aber sank sie, als wenn sie in Ohnmacht fiele, zurück und zerging wie ein Hauch.
Als ich mich wieder gesammelt hatte und mich umsah, war mir, als sei der Rosenton, in dem die Erscheinung aufgeblüht war immer noch da, als erfülle er jetzt die Luft und umgäbe mich von allen Seiten... Es war die Morgenröte. Plötzlich überkam mich die äußerste Erschöpfung, und ich begab mich ins Haus. Ich musste am Geflügelhof vorüber und hörte dort das Morgengeschnatter der Gansküken (von allem Geflügel werden sie am frühesten wach); längs des Dachfirstes hockten Dohlen, die sich scharf vom milchweißen Himmel abhoben, und putzten sich stumm, aber geschäftig. Zuweilen stiegen sie alle zugleich auf, flatterten ein wenig und ließen sich dann alle in der gleichen Ordnung nieder, und alles ohne einen Laut... Aus dem nahen Wäldchen drang zweimal das heisere Morgenknarren des Auerhahns, der sich soeben in das taufrische Gras begeben hatte, um Waldbeeren zu suchen... Ich erreichte mein Bett und fiel gleich darauf in tiefen Schlaf.
In der folgenden Nacht schwebte Ellis, als ich mich der alten Eiche näherte, mir wie einem vertrauten Bekannten entgegen. Ich fürchtete mich nicht mehr vor ihr wie gestern. Ich war fast froh darüber, sie zu sehen, und ich versuchte nicht erst darüber nachzugrübeln, was in mir vorging: genug, dass ich den Wunsch hatte zu fliegen.
Ihr Arm umschlang mich, und wieder schwangen wir dahin... "Nach Italien", flüsterte ich ihr ins Ohr.
"Wohin es dir gefällt, Geliebter", entgegnete sie still und feierlich - und feierlich und still sah sie mir ins Gesicht. Mir wollte scheinen, sie wäre nicht ganz so durchsichtig wie gestern. Sie war ein wenig weiblicher und wärmer und erinnerte mich an das wunderbare Geschöpf, das gestern, als wir um die Morgendämmerung voneinander schieden, vor mir entstanden war.
"Diese Nacht ist eine große Nacht", fuhr Ellis fort: "Sie kommt selten, und nur wenn siebenmal dreizehn ..."
Die folgenden Worte konnte ich nicht hören.
"Heute wird sichtbar, was sonst verborgen bleibt."
"Ellis!" rief ich flehend: "Wer bist du? Sage es mir endlich!"
Schweigend wies sie mit ihrem schlanken weißen Arm nach oben. Am dunklen Himmel funkelte dort, wohin der Finger zeigte, inmitten der Schar der kleinen Sterne wie ein roter Streif ein Komet.
Aber da lag Ellis' Hand auf meinen Augen... Mir war, als umfinge mich der weiße Nebel eines feuchten Tales...
"Nach Italien! Nach Italien!" hörte ich sie flüstern. "Diese Nacht ist eine große Nacht!"
Als der Nebel schwand, sah ich deutlich eine unendliche Ebene unter mir. Die warme und linde Luft, die um meine Wangen wehte, kündigte mir bereits an, dass ich nicht mehr in Russland war, und auch die Ebene dort unten war anders als die russischen Ebenen. Es war eine riesenhafte, dunkle Fläche, auf der, wie es schien, kein Gras wuchs und die völlig nackt war; hie und da glänzten stehende Gewässer wie kleine Scherben eines zertrümmerten Spiegels auf, und in der Ferne ahnte ich ungewiss das unhörbare, unbewegte Meer. Sterne, groß wie ich sie nie zuvor erblickt hatte, brachen durch die schön geformten Wolken; ein tausendstimmiges, nicht enden wollendes und dennoch nicht lautes Trillern drang empor - wunderbar war dieser träumerische Klang, diese Nachtstimme der Wüste...
"Die Pontinischen Sümpfe", erklärte Ellis.
"Warum brachtest du mich hierher, warum diese traurige und verlassene Einöde? Fliegen wir nach Rom."
"Rom ist nah", erwiderte Ellis: "Mach dich bereit!"
Wir stießen hinab und flogen nun entlang der alten Römerstraße. Im Morast hob ein Büffel den gewaltigen Kopf mit dem kurzen borstigen Kraushaar zwischen den krummen, zurückgebogenen Hörnern. Seine nassen Nüstern schnaubten schwer, als hätte er uns gewittert.
"Rom. Rom ist nah ...", flüsterte Ellis. "Schau nur, schau nach vorn ..."
Ich blickte auf.
Da dunkelten am Horizont des nächtlichen Himmels die hohen Bogen einer gigantischen Brücke. Es war der alte Aquädukt. Rings dehnte sich der Campagna geheiligter Boden, und in der Ferne ragten die Berge von Albano. Ihre Gipfel schimmerten sanft in den Strahlen des aufgehenden Mondes.
Jäh ging es in die Höhe, und wir hielten in der Luft vor einer verlassenen Ruine. Keiner hätte sagen können, was hier früher einmal gewesen war: ein Grabmal, ein Palast oder ein Turm... Schwarzer Efeu umspann und überrankte die Ruine mit seiner alles überwindenden und ertötenden Kraft, unten aber gähnte wie ein Rachen ein halbverschüttetes Gewölbe. Ein schwerer und dumpfer Kellergeruch wehte von diesem Haufen eng ineinandergefügter Steine, von denen längst die Granitverkleidung abgebröckelt war.
"Hier", rief Ellis und erhob den Arm. "Hier ist es! Sprich ihn laut aus, dreimal laut aus, den Namen eines großen Römers."
"Und dann?"
"Du wirst sehen."
Ich überlegte. "Divus Cajus Julius Caesar!" rief ich dann. "Divus Cajus Julius Caesar!" wiederholte ich langsam. "Caesar!"
Der Hall meiner Worte war noch nicht verstummt, da vernahm ich es... Ich weiß nicht zu sagen, was es war. Anfangs war es wie ein wirres, kaum vernehmbares, aber unaufhörlich sich wiederholendes Hörnerblasen und Händeklatschen. Es war gleichsam, als ob in einer furchtbaren Ferne oder in einem bodenlosen Abgrund eine unzählige Menge von Menschen plötzlich in Fluss geraten sei und als stiege sie nun empor, stiege aufwärts in unablässiger Bewegung, und all das kaum hörbar, wie in einem Traum, einem lastenden, jahrtausende altem Traum. Schon begann die Luft zu wogen, und dunkler wurde es über der Ruine... Schatten wirbelten rings um mich her, Tausende von Schatten, bald gerundet wie Helme, bald lang und spitz wie Speere; und auf diesen Helmen und Lanzen glitzerte das Mondlicht mit blitzartigen bläulichen Funken - und diese ganze unbeschreibliche Menge zog näher und näher heran und wuchs und wogte immer gewaltiger...
Eine unsägliche Spannung, eine Spannung, stark genug, um die Welt aus den Angeln zu heben, bewegte diese Masse, aber es gelang mir nicht, auch nur eine einzige Gestalt klar zu sehen... Mit einem Mal war mir, es ginge ein Beben durch die Menge, ganz so, als ob gigantische Wogen zurückprallten und sich verteilten...
"Caesar, Caesar venit!" rauschten die Stimmen auf, wie Blätter im Walde, in die jählings der Sturm stößt... ein dumpfer Donner rollte - und im Lorbeerkranz und mit gesenkten Augenlidern kam bleich und streng das Haupt des Imperators hinter der Ruine hervor ....
Menschliche Sprache hat keine Ausrücke für das Grauen, das mir das Herz zusammenpresste. Wenn dieses Haupt die Augen aufgeschlagen oder die Lippen geöffnet hätte - ich wäre wohl auf der Stelle gestorben.