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"Wir sind bei Mannheim", sagte Ellis. "Und hier ist der Schwetzinger Park."

In Deutschland also, dachte ich und horchte hinunter. Totenstille, einsam nur und unsichtbar plätscherte ein Springbrunnen. Es war, als bekräftige er unaufhörlich ein und dasselbe: "Ja, ja, ja - so ist das." Und plötzlich glaubte ich inmitten einer der Alleen zwischen den zierlich beschnittenen grünen Hecken ein Paar zu sehen: der Kavalier auf roten Stöckeln, in goldverbrämtem Rock mit weißen Spitzenmanschetten, den leichten Stahldegen an der rechten Seite, reichte einer Dame im geblümten Reifrock, deren Haar hochgesteckt und gepudert war, graziös den Arm... Seltsam und bleich waren ihre Gesichter... Ich wollte sie näher betrachten... Sie waren plötzlich verschwunden, und nur das Wasser rauschte wie zuvor.

"Wandernde Träume", flüsterte Ellis. "Gestern waren es ihrer viel mehr... Viel, viel mehr. Heute fliehen sogar die Träume das menschliche Auge. Weiter! Weiter!"

Wir stiegen auf, und wieder ging's dahin. So sanft, so gleichmäßig war diesmal unser Flug, dass es mir vorkam, nicht wir bewegten uns. sondern als käme uns alles entgegengeflogen. Dunkel, wellig und bewaldet tauchten Berge vor aus auf, wuchsen empor und schwammen auf uns zu, flossen dann zu unseren Füßen vorbei, vorüber mit ihren Schluchten, Hohlwegen, Bergwiesen, mit den Lichtpünktchen der schlafenden Dörfer in den Tälern am Ufer der schnellen Gebirgsbäche. Wir waren im Herzen des Schwarzwalds.

Berge, Berge... und Wald, wundervoller alter und kräftiger Wald. Der Nachthimmel war klar, und so vermochte ich alle Baumarten zu unterscheiden, zuerst die prächtigen Weißtannen mit ihren geraden und hellen Stämmen. Am Waldessaum ästen Rehe, schlank und wachsam standen sie auf ihren zierlichen Beinen und horchten in die Nacht. Die Ruine eines Schlosses blickte traurig und stumm, mit halbverfallenen Zinnen, von ihrer nackten Klippe ins Land. Über ihrem alten und vergessenen Gemäuer glänzte friedvoll ein Stern.

Land der Legenden! Ein zarter Mondnebel strömt durch die Täler, und je weiter die Berge auseinander treten, desto dichter wird er. Ich kann fünf, sechs, ja zehn verschiedene Tönungen der Schatten auf den Berghängen zählen und geheimnisvoll herrscht über all dieser schweigsamen Mannigfaltigkeit der Mond. Leicht und zärtlich strömt die Luft und mich ergreift ein Gefühl, in dem heitere Ruhe ist und dennoch eine tiefe Schwermut.

"Ellis, dieses Land - du musst es lieben!"

"Ich liebe nichts. Ich liebe nichts."

"Nichts? Und mich?"

"Dich... ja dich!" entgegnete sie, aber wie gleichgültig ihr Ton dabei ist. Es scheint mit, als umschlinge mich ihr Arm fester als zuvor.

"Weiter! Weiter!" ruft Ellis mit einer sonderbar kalten Begeisterung. "Weiter!"

***

Über uns erklangen starke und helle Schreie und wiederholten sich gleich darauf ein wenig vor uns.

"Kraniche, die zu euch nach Norden ziehen", erklärte Ellis. "Wollen wir uns ihnen anschließen?"

"Ja! Trage mich hinauf zu ihnen."

Wir stiegen auf und waren sogleich neben dem Schwarm.

Die großen und schönen Vögel (dreizehn im ganzen) flogen in einem Dreieck, ihre Flügelschläge waren stark, aber nicht häufig. Haupt und Beine straff gestreckt, die Brust gewölbt, so zogen sie unaufhaltsam und schnell dahin. Wunderbar war das Bewusstsein, noch in dieser Höhe, in solcher Entfernung von allem Irdischen so starkes und warmes Leben anzutreffen, einen so unbeugsamen Willen. So schwangen sie sieghaft durch den Raum, und nur zuweilen wechselten die Kraniche mit dem vordersten Gefährten spärliche Schreie. Wie viel Stolz und Sicherheit, welch ein Zutrauen zu sich selbst lag in diesen lauten Rufen, in dieser UNterhaltung in Wolkenhöhe. Nordwärts - nordwärts flogen sie dahin.

"Wir fliegen nach Russland", sagte Ellis, und wieder einmal konnte ich wahrnehmen, dass sie fast immer wusste, woran ich dachte. "Willst du schon heim?"

"Ja, nach Hause... oder nein! Ich war in Paris, trage mich nach Petersboerg."

Ellis hob den Arm... doch ehe noch der Nebel mich umfing, fühlte ich auf meinen Lippen die Berührung jenes weichen und stumpfen Stachels...

***

"A---achtung!"

In meinen Ohren schallte ein langgezogener Ruf..

"A---achtung!" Verzweifelt kam aus der Ferne der Widerhall.

"A---achtung!" verklang es irgendwo am Ende der Welt.

Ich sah hinab. Eine hohe goldene Spitze... Ich erkannte sofort die Festung Peter-Paul.

Weiße, nordische Nacht! Darf man das noch Nacht nennen? Es ist eher ein blasser kranker Tag. Diese Petersboerger Nächte habe ich nie geliebt, aber nun erst wurde mir unheimlich. Ellis' Gestalt war nicht mehr sichtbar, schmolz hin wie in der Julisonne ein Morgennebel, und plötzlich gewahrte ich meinen eigenen Körper schwer und einsam in der Höhe der Alexandersäule in der Luft hängen! Petersboerg, da war es also! Diese öden, breiten und grauen Straßen, diese weißgrau, graugelb und lilagrau getünchten und immer ein wenig abbröckelnden Häuser mit ihren tiefliegenden Fenstern, den grellen Ladenschildern, den kleinen eisernen Schutzdächern über den Haustüren und den schmutzigen Gemüseläden, diese Ziergiebel, Aufschriften, Postenhäuschen und Futtertröge, die goldene Mütze der Isaakskirche, die sinnlos bunte Börse, die Granitmauern der Festung und das ewig schadhafte Holzpflaster, die riesigen Barken mit Heu und Klafterholz, der sonderbare Geruch von Staub, Kohle, Bastmatten und Pferdestall, die erstarrten Nachtwächter, in ihren Schafpelzen vorm Haustor sitzend, und endlich die von bleiernem Schlaf überwältigten und ganz zusammengesunken auf dem Kutschbock ihrer schon völlig durchgesessenen Wägelchen hockenden Kutscher - ja, in der Tat, ich erkannte es, unsre nordisches Palmyra. Und alles so unheimlich klar, so schreckhaft hell und deutlich, und alles in traurigem Schlaf, sonderbar grell in der dämmrigen, durchsichtigen Luft. Ein Abglanz der Abendröte - ein schwindsüchtiger Schimmer - lag noch immer am blassen und sternenlosen Himmelsbogen (er bleibt bis etwa zum Anbruch des Tages) und auf der seidenen Breite der Newa, die kaum hörbar und fast bewegungslos und dennoch mitgroßer Eile ihre kalten und blauen Wasser der See zuführte...

"Fliegen wir weiter", bat Ellis.

Sie trug mich, ohne erst meine Antwort abzuwarten, über die Newa und quer über den Schlossplatz der Litejnaja zu. Unten wurden Schritte und Stimmen hörbar: Eine Schar von jungen Männern mit verwelkten Gesichtern schritt dort und unterhielt sich über einen Ball. Ein verschlafener Soldat stand bei einer kleinen Pyramide aus rostigen Kanonenkugeln und ein wenig weiter sah ich am offenen Fenster eines großen Hauses ein Mädchen in einem ärmellosen und zerknitterten Seidenkleid, ein Perlennetz auf dem Haar, im Munde die Zigarette.

"Fliegen wir weiter!" Diesmal sagte ich es.

Einen Augenblick - und schon zogen sich zu unseren Füßen modernde Tannenwäldchen und die mit Moos überwucherten Sümpfe hin, die rings um Petersboerg liegen. Unser Weg führte nach Süden - nach und nach wurden Himmel und Erde wieder dunkler. Die kranke Nacht, der kranke Tag und die große karnke Stadt - alles blieb hinter uns zurück.

***

Langsamer als sonst war diesmal unser Flug und so konnte ich sehen, wie sich gleich einem unendlichen Panorama meine heimatliche Erde allmählich vor mir entfaltete. Wälder, Gebüsche, Felder und Flüsse - hier und da Dörfer und Kirchen - und wieder Felder und Wälder und Gebüsche... Schwermut überkam mich und etwas wie gleichgültige Langeweile. Die Erde selber, diese ebene Oberfläche, die sich dort unter mir ausbreitete, der ganze Erdball mit seiner vergänglichen, hilflosen, von Not, Qual und Krankheit geplagten und unentrinnbar an die Scholle elenden Staubes gefesselten Menschheit, diese zerbrechliche raue Rinde, diese Kruste über dem flammenden Staubkörnchen, das wir unsere Erde nennen, bedeckt vom Schimmel, den wir als das organische Pflanzenreich preisen - und all die Menschen-Fliegen, tausendmal nichtiger als die wirklichen Fliegen, und ihre aus Dreck errichteten Behausungen, die winzigen Spuren ihres jämmerlichen und einförmigen Treibens, ihr komischer Kampf gegen das Unveränderliche und Unabwendbare - ah, wie widerlich wurde mir das alles mit einem Male! Das Herz drehte sich mir langsam im Leibe um, und bald hatte ich genug davon, diese nichtssagenden Bilder zu betrachten, diese Ausstellung von Abgeschmacktheiten... Ja, Langeweile überkam mich und sogar noch schlimmeres als Langeweile. Nicht einmal Mitleid empfand ich mehr für meine Mitmenschen; alle Gefühle gingen in dem einen Gefühl unter, das zu nennen ich mich kaum getraue: das Gefühl des Ekels. Aber am stärksten, am fühlbarsten wuchs in mir der Ekel vor mir selbst.