Mit entschlossenen Schritten ging sie auf die Zugbrücke zu. Tom sah sich suchend nach Hugo um, aber der war nirgends zu sehen.
»Hey, Hugo«, er klopfte auf seinen Rucksack. »Komm sofort da raus. Schleim woanders rum, ja?«
»Gömoinhoit«, säuselte Hugo und schwabbelte ans Tageslicht. »Ös üst zu höll, vül zu höll!« jammerte er. »Und düsör schoißlüchö Wünd.«
Tom schüttelte nur den Kopf und folgte Hedwig Kümmelsaft über die Brücke. Die runden abgetretenen Bohlen waren glitschig vom Regen.
Tom trat an das Geländer und blickte hinunter in das schwarze Wasser des Burggrabens.
»Üch rüüüüchö Goistör!« flüsterte Hugo. »Wossör- goistör, Schlommgoistör, uuuururaltö Goistör. Buuu- huuuuu.«
Kichernd verschwand er im dunklen Torbogen in der Burgmauer.
Tom riß sich vom Anblick des dunklen Wassers los und stolperte hastig hinter Hugo her, vorbei an den Steinfratzen und den Luken, durch die man früher ungebetenen Besuchern heißes Pech auf den Kopf gegossen hatte. Als er den Burghof
überquerte, hatte er plötzlich das Gefühl, daß ihn uralte Augen beobachteten. Böse Augen, voller Haß und Gemeinheit. Aber als er sich umsah, war niemand zu sehen.
Frau Kümmelsaft stand mit Hugo schon auf der breiten Treppe, die zur Haupttür der Burg hinaufführte. Klitschnaß und frierend kam Tom bei ihnen an. Neben der Tür stand auf einem großen Schild: Burg Düsterstem, Besichtigung werktags von 10-12, sonntags von 10-16 Uhr, Führungen nur nach Anmeldung.
»Hugo«, sagte Hedwig Kümmelsaft, »solltest du dich wieder so danebenbenehmen wie vorhin, dann werde ich dich höchstpersönlich mit rohen Eiern bewerfen. Ist das klar?«
»Pfui Toiföl«, stöhnte Hugo und sackte in sich zusammen. »Koinö kloinön Schörzö?«
»Keine«, sagte Hedwig Kümmelsaft.
Dann zog sie an der Kette, die neben der großen Holztür baumelte. Tief im Innern der Burg schepperte eine Glocke...
Die gespenstliche Warnung
»Wer ist da?« wisperte eine verängstigte Stimme hinter der großen Tür.
»Hier sind Kümmelsaß: & Co.«, antwortete Frau Kümmelsaft. »Die Gespensterjäger.«
»Oh!« Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und ein Mann und eine Frau lugten angstvoll heraus.
»Herr und Frau Wurm?« fragte Tom. »Hallo, können wir bitte rein?«
»Hoooollohooooo!« säuselte Hugo und winkte freundlich mit seinen weißen Fingern.
Rumms, war die Tür wieder zu.
Hedwig Kümmelsaft seufzte - und zog noch mal an der Kette.
»Das ist nur mein Assistent Hugo MUG!« rief Frau Kümmelsaft. »Sie können unbesorgt wieder aufmachen.«
Hinter der Tür begann ein aufgeregtes Getuschel. Dann ging die Tür wieder auf.
»Kommen Sie rein«, flüsterte eine kleine dicke Frau. In ihrem grauen Haar steckte eine rosa Schleife.
»Ja, kommen Sie rein!« raunte der Mann. »Sie müssen entschuldigen, aber Ihr Assistent - ahm -, ja, also, er sieht etwas merkwürdig aus.«
»Er ist ein Gespenst«, sagte Tom. »Aber ein ganz harmloses.«
»Olso gonz hormlos nücht«, säuselte Hugo, »öhör...«
Ein strenger Blick von Frau Kümmelsaft ließ ihn verstummen.
In der Burg war es nicht viel wärmer als draußen. Die hohe, düstere Eingangshalle wurde nur von ein paar Kerzen beleuchtet, die in eisernen Haltern an den rußgeschwärzten Wänden hingen.
»Oh, wir sind ja wirklich so froh, daß Sie da sind«, flüsterte Frau Wurm mit bebender Stimme. »Heute sind mir schon wieder meine Töpfe nachgeflogen. Nachgeflogen, ich bitte Sie!« Mit einem kleinen Schluchzer rückte sie sich ihre Schleife zurecht.
»Aha!« Frau Kümmelsaft nickte und sah sich um. »Nun, am besten begeben wir uns schnellstens in einen gut geheizten Raum, denn das mögen die wenigsten Geister, und dort erzählen Sie uns ganz genau, was bisher vorgefallen ist.«
»Oh, dann gehen wir wohl am besten in die alte Waffenkammer. Dort hat mein Mann sich eine kleine Werkstatt eingerichtet«, wisperte Frau Wurm. »Kommen Sie.«
Mit hastigen Trippelschritten eilte sie auf eine gewaltige Steintreppe zu, an deren Fuß zwei Rüstungen ohne Arme standen. Der einen fehlte auch noch das linke Bein.
»Ja, wie Sie sehen, ist alles in einem furchtbaren Zustand«, sagte Herr Wurm. »Seit wir hier sind, bin ich nur mit Restaurierungen beschäftigt. Aber kaum habe ich etwas fertig, rums, fliegt es durch die Luft. Oder plötzlich sind riesige Schlammflecken drauf. Es ist entsetzlich.«
»Hier entlang, bitte!«
Frau Wurm führte sie von der Treppe in einen Flur, an dessen Wänden zwischen schmalen Fenstern Unmengen von Lanzen, Morgensternen, Schwertern und anderen Mordwerkzeugen hingen.
»Das ist die berühmte Waffensammlung des Ba rons«, flüsterte Frau Wurm. »Sie ist uns schon einige Male um die Ohren geflogen. Es ist wirklich ein Wunder, daß wir noch nicht aufgespießt worden sind.«
»Sehr interessant«, sagte Frau Kümmelsaft. »Ach, übrigens, Sie brauchen nicht zu flüstern. Die meisten Gespenster hören nicht besonders gut. Sie riechen ihre Opfer, was leider eine sehr zuverlässige Methode ist.«
»Stümmt«, Hugo färbte sich bläulich. »Und üch rü- üüchö jötzt wos. Ötwos Oltös, Gömoinös.«
Beunruhigt schwabbelte er ein paar Meter zurück.
Tom griff hastig in seinen Rucksack und zog eine große Blumenspritze hervor, die mit Meerwasser gefüllt war.
»Schnell!« rief Frau Kümmelsaft. »An die Wand!«
Herr Wurm gehorchte, aber Frau Wurm stand wie angewurzelt da und starrte nach oben.
Dort wand sich ein riesiger Speer in seiner Halterung. Wie eine hölzerne Schlange zuckte sein Schaft hin und her. Tom spritzte eine satte Ladung Salzwasser darauf. Als Antwort erklang ein schrilles, ärgerliches Kreischen. Zwei Morgensterne flogen durch die Luft und bohrten sich in den Fußboden. Säbel, Speere und Lanzen polterten herunter - mittendrin stand Frau Wurm und begann zu kichern.
Ein ganz scheußliches Kichern war das, heiser und hohl.
Und dann fing Frau Wurms Kopf an zu leuchten wie ein Kürbis an Halloween. Ihr Gesicht verschwamm, als wäre es flüssig. Ihre Augenbrauen wurden dick, und aus ihren Haaren triefte grüner Schlamm. Ihr Mund verzog sich zu einem abscheulichen Lächeln.
»Die Baronin!« schrie Herr Wurm entsetzt. »Die Blutige Baronin!«
»Ein Körperschlüpfer!« rief Frau Kümmelsaft.
»Schnell, Tom, beiß dir auf die Zunge! Sie auch, Herr Wurm!«
»Diiiiies iiiiist meine Buuuurg!« zischte Frau Wurm mit der unheimlichsten Stimme, die Tom je gehört hatte. »Iiihr verschwindet!«
»Salzwasser, Tom!« rief Frau Kümmelsaft. »Spritz ihr was auf die Füße!«
Tom riß die Blumenspritze hoch und spritzte alles Salzwasser, das noch drin war, auf Frau Wurms Füße.
»Iiiiiiiih!« kreischte die Blutige Baronin. Wie wild hüpfte Frau Wurm auf und ab, während sich um sie her eine graugrüne Schlammpfütze auf dem Fußboden bildete.
»Iiiiich komme wiiiieder!« heulte die scheußliche Stimme. Frau Wurms Gesicht verschwamm wieder, ihr Kopf hörte auf zu leuchten, ihr Haar wurde wieder grau - und der Spuk war vorüber.
»Meine Liebe!« Herr Wurm stürzte besorgt auf seine Frau zu.
»Sie war - icks - in - icks -, in mir drin!« schluchzte Frau Wurm. »Oh, es war so - icks - grausig, absolut grausig.«
Tröstend nahm ihr Mann sie in die Arme.
»Und jetzt habe - icks - ich auch noch einen - icks - Schluckauf.« rief Frau Wurm verzweifelt.
»Keine Sorge!« sagte Hedwig Kümmelsaft. »Das vergeht nach etwa vierundzwanzig Stunden. Das ist eine typische Folge von Körperschlüpfer-Befall.«