Die Nüsselschwein kommt wieder herein, und ich beende mein Gespräch, um mich ihr zuzuwenden. »Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, in der Klinik anzurufen?«
»Es kann ja wohl nicht sein, dass man der Frau einfach ihr Kind wegnimmt«, wehrt sie sich.
»Ja, wer will das denn?«, frage ich. »Ich habe selbst Kinder, ich brauche weiß Gott kein weiteres Pflegekind mehr, nicht mit aller Gewalt. Kein Mensch will der Frau ihr Kind wegnehmen. Wir kümmern uns um den Kleinen, weil der hier fremd ist, niemanden hat und Kinder irgendjemanden brauchen. Sobald die Frau dazu in der Lage ist, kann Daniel doch wieder zu ihr.«
»Bis dahin aber ist er hier untergebracht«, sagt Heidi Klums fette Schwester und zeigt angewidert im Raum herum, »in diesem … diesem Etablissement!«
»Sie haben recht, Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, das ist hier ein Bestattungshaus, und unsere Kinder müssen sich jede Nacht das Bett mit einer kalten Leiche teilen und nachmittags mit Totenschädeln Fußball spielen. Und zu essen gibt es bei uns nur Leichenmaden und frische Innereien.«
»Sagen Sie mal, wollen Sie mich jetzt zu meinem ganzen Unglück auch noch auf den Arm nehmen?«
Ostentativ lasse ich meinen Blick über ihren massigen Körper schweifen und schüttele langsam den Kopf: »Nein, das glaube ich kaum.«
»Damit gehe ich ganz und gar nicht konform! Der einzige sinnvolle Platz für den Jungen ist bei mir, bei einer richtigen Mutter, einer Frau und nicht irgendwo bei irgendwelchen Leuten.«
»Sie gehen mir so was von auf den Zeiger, das glauben Sie gar nicht. Wenn Sie was Sinnvolles tun wollen, dann kümmern Sie sich darum, dass Frau Olugulade eine Unterkunft hat. Wir wissen zwar nicht, ob sie überhaupt hierhin kommen will, aber es besteht doch immerhin die Möglichkeit, oder?«
Entrüstet packt die Afrika-Helferin ihre Sachen zusammen und zieht ab wie eine Fregatte unter Volldampf. Ich begleite sie zur Tür und winke ihr nicht hinterher, als sie mit ihrem Sharan um die Ecke biegt. Innerlich koche ich! Schon wieder geht das Telefon. Ein Mann namens Jussip ist am Apparat, und ich höre sofort, dass es ein Afrikaner ist. Er spricht ein gutes Deutsch mit starkem Akzent, für mich aber viel zu schnell.
Ich bitte ihn, langsamer zu sprechen, dann verstehe ich ihn. Er ist der allerbeste Freund der Familie und hat heute erfahren, was passiert ist. Unsere Polizei hat in Duisburg ermittelt und ist auf ihn gestoßen. Er ist kein Nigerianer, sondern aus Ghana, und er ist vollkommen erregt und traurig. Ob das alles stimme und was denn jetzt sei, will er wissen. Ich erzähle ihm alles, was er wissen will, und er bittet darum, eine Weile darüber nachzudenken, dann werde er sich wieder melden. Noch bevor ich etwas sagen kann, hat er aufgelegt. Im Display stand nur »unterdrückte Nummer«.
Ja, Jussip sei ein ganz guter Freund, bestätigt Daniel. Der sei ein guter Mann. Nun denn, dann warte ich mal auf den Anruf von Jussip.
Am nächsten Tag gönnen wir – Pfarrer Schmidt, Daniel und ich – uns den Luxus und lassen uns von einem meiner Männer fahren. Das ist ja schon eine Strecke, und ich war der Meinung, dass dem Pfarrer und mir vorher ein Glas Sekt und hinterher ein Schnaps ganz guttun würden. So haben wir das auch gemacht – so ein wenig Sekt beschwingt wenigstens ein bisschen.
So kleine afrikanische Babys sind ja so was von süß. Ich finde ja überhaupt alle Babys goldig, aber so kleine dunkelhäutige Krausköpfchen sind was ganz Besonderes. Ganz klitzekleine Krüselchen hat der Kleine auf dem Kopf. Benjamin soll er heißen und noch einen afrikanischen Namen dazubekommen, und Benjamin hat man uns zuerst gezeigt.
Nach der Babyschau ging es auf Station III, und wir kamen zum Zimmer von Frau Olama Olugulade. Die hatte schon am Verhalten der Schwestern gespürt, dass irgendwas im Gange ist, und den ganzen Vormittag gefragt, ob was Besonderes sei. Ein Arzt und zwei Schwestern standen bereit, als wir die Zimmertür öffneten.
Daniel rannte als Erster hinein, und die beiden begrüßten sich laut und wortreich in einer Sprache, die ich nicht kenne, die aber von englischen Vokabeln durchsetzt zu sein scheint, denn ab und zu verstand ich ein einzelnes Wort.
Als Pfarrer Schmidt und ich das Zimmer betraten, verstummte Frau Olugulade kurz und rief sofort: »Was ist mit meine Mann? Wo ist meine Mann? Was ist passiert? Was ist passiert?«
Wer jetzt meint, man könne bei einer so hochsensibilisierten Frau noch irgendwelche Floskeln oder beruhigenden Einführungssätze anbringen, der täuscht sich. Pfarrer Schmidt und ich schauten uns an. Die ganze Fahrt über hatten wir es tunlichst vermieden, darüber zu sprechen, wer die Botschaft überbringt. Jetzt ging er vor, setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, nahm die Hand der Frau und sprach leise auf sie ein. Zuerst schwieg die Frau; das laute Wehklagen, das dann folgte, ist mit Worten kaum zu beschreiben.
Sie setzte sich auf, begann den Oberkörper vor- und zurückzuwiegen und schlug mit den Händen auf die Bettdecke. Dabei stimmte sie ein sich immer wiederholendes Wehklagen an, das sich wie »Oh weia, oh weia« anhörte, sicher aber anders lautete. Jetzt erst kamen die beiden Schwestern ins Zimmer und sprachen ebenfalls beruhigend auf die Frau ein. Daniel saß die ganze Zeit am Fußende und weinte, es war das erste Mal, dass er so richtig laut und heftig weinte. Die ganzen Tage bei uns hatte er sich mal das eine oder andere kleine Tränchen erlaubt, aber ansonsten keine Regung in dieser Richtung gezeigt. Im Grunde war ich froh, dass dieser Stau endlich aufgelöst war und die Tränen fließen konnten.
Eine halbe Stunde später sitzen wir im Wartebereich der Station. Man hat uns Kaffee gebracht, so richtig schönen geschmacksbefreiten Krankenhauskaffee. Frau Olugulade hat eine Spritze bekommen, und wir sollen ihr wenigstens eine gute halbe Stunde Zeit geben. Im Grunde ist es gar nicht die richtige Zeit und Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Man müsste bei ihr bleiben können, aber wir müssen wieder zurück. Pfarrer Schmidt und ich besprechen, dass wir der Frau vielleicht dadurch helfen, dass wir ihr sagen, dass sie sich zunächst um nichts Sorgen machen muss und dass wir uns kümmern werden. So machen wir es auch. Es ist das erste Mal, dass ich mit Frau Olugulade sprechen kann. »Wie kommt das, dass mein Mann tot ist, wie kommt das?« Wir versuchen es zu erklären, sitzen oft nur minutenlang schweigend da, sprechen ihr Mut zu, mehr können wir nicht tun.
Der Krankenhauspfarrer kommt dazu. Er macht überhaupt keinen senilen Eindruck, sondern ist sehr bestimmt. Er stammt aus Bayern, das hört man, er ist etwas laut, aber sehr lieb. Mit seinem weißen Bart sieht er ein bisschen aus wie ein Nikolaus in Schwarz. Wir schreiben alle unsere Telefonnummern auf, auch für Frau Olugulade fertigen wir einen Zettel aus. Daniel ist es, der nach fast anderthalb Stunden zum Aufbruch drängt – ich glaube, ihm wurde das alles zu viel.
Sie will den Kleinen nicht gehen lassen, eine Schwester muss sie halten, und erst als eine andere Schwester den frisch geschlüpften Benjamin bringt, bessert sich die Situation. Ich werde nie diese großen schwarzen Augen vergessen, mit denen sie uns hinterherschaute.
Als wir wieder daheim sind, erwartet uns meine Frau – sie hat Hähnchenflügel gebacken und Bier kaltgestellt. Das tut uns allen gut. Sie erzählt außerdem, dass die Birnbaumer-Nüsselschweif nach dem Unterricht vor der Schule gewartet habe und Daniel angeblich nur »was Schönes« schenken wollte. Unsere Kinder haben ihr aber gesagt, dass Daniel erst morgen zur Schule kommt, dann ist sie beleidigt abgezogen. Morgen werden wir Daniel hinbringen und auch wieder abholen. Nicht dass der noch vernüsselschweift wird.
Ein schrecklicher Tag. Ich bin froh, wenn ich nachher ins Bett gehen und den Tag beenden kann. Vorher noch »Dr. House« im Fernsehen anschauen und dann langsam in Richtung Federbett.