Der folgende Tag wird jedoch auch nicht viel besser, denn die Birnbaumer-Nüsselschweif macht jetzt Bambule. Sie hat nun neben Herrn Dr. Raps auch den Vorsitzenden des Heimatvereins und die halbe Kirchengemeinde gegen mich aufgebracht. Das Telefon steht praktisch nicht mehr still. Hinter teilweise scheinheilig vorgetragenen Hilfsangeboten lauert stets der Vorwurf, warum wir das Kind nicht in die richtigen Hände geben wollen. Aus dem Anruf der Müttervorsitzenden, also der Vorsitzenden des Mutterkreises der Kirchengemeinde, kann ich aber einen wichtigen Hinweis über die Beweggründe der Birnbaumer-Nüsselschweif entnehmen. Die habe nämlich vor acht Jahren eine Fehlgeburt erlitten, und mittlerweile sei für sie aus Altersgründen »der Zug abgefahren« – daher habe sie einen tiefen, aber unerfüllten Kinderwunsch. Ich weiß gar nicht, wie ihr Mann jetzt heißt, ist das der Herr Birnbaumer oder der Herr Nüsselschweif? Jedenfalls ist er wohl um beinahe zwanzig Jahre älter als seine mutternde Frau, und deshalb kommen die Birnbaumer-Nüsselschweifs angeblich für eine Adoption nicht mehr in Frage.
Sie habe sich daraufhin der Zucht von Yorkshire-Terriern hingegeben, das weitere Ausüben dieses Gewerbes sei ihr aber behördlicherseits untersagt worden. Sie habe ihre Zuchthündinnen zu oft »belegen« lassen, um möglichst oft und möglichst viele Welpen zu haben, von denen sie sich auch nur sehr schwer trennen konnte. Die Müttervorsitzende erzählt weiter, dass die Nüsselschweifs heute gar keine Tiere mehr hätten, und das sei doch eine ganz arme Frau, die ich jetzt so gemein behandeln würde.
Mann, ich reiße mich doch wirklich nicht um diesen kleinen schwarzen Jungen. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es ihm guttäte, käme er jetzt alle paar Tage in eine andere Familie. Der kleine Prinz von Zamunda hat sich ganz gut eingelebt und nutzt wie selbstverständlich die Gegebenheiten des Hauses. Meinen Kindern gegenüber benimmt er sich oft wie ein Feldwebel, der sofort beleidigt ist, wenn nicht alle nach seiner Pfeife tanzen. Es kann ihm nicht schaden, sich ein bisschen einfügen zu müssen, finde ich.
Jussip hat sich auch wieder gemeldet. Er will nächste Woche nach Bonn fahren, Frau Olugulade dort abholen und mit dem kleinen Benjamin hierherbringen.
Damit stellt sich für mich nun das Problem, wo ich die Familie unterbringe. Im Rathaus sagt man mir, das sei doch kein Problem, die könnten in die Siedlung. Mit »der Siedlung« sind die Baracken gemeint, die zwar inzwischen recht ordentlich hergerichtet sind, aber dennoch Einfachstwohnungen für Obdachlose und Zwangsgeräumte, in denen (von Ausnahmen mal abgesehen) nur Leute wohnen, denen ich die Olugulades nicht anvertrauen möchte.
Mein Fahrer Freddy ist vor drei Monaten auch zwangsgeräumt worden. Die näheren Umstände tun hier nichts zur Sache, nur so viel sei erzählt, dass da eine trunksüchtige Ehefrau, eine bevorstehende Scheidung und ständig versoffene Mieten im Spiel waren. Und der Freddy gibt mir heute den entscheidenden Tipp. Er habe damals bei einer bestimmten Wohnungsbaugenossenschaft angerufen, die sich besonders für ihn eingesetzt habe. Auf Grund der Umstände habe man eine Monatsmiete »Sicherheit« verlangt, ihm aber quasi über Nacht eine Zweizimmerwohnung zugewiesen. Dort will ich nachher mal anrufen, vielleicht können die auch für die Olugulades etwas tun.
Inzwischen ist es etwas still geworden um die Olugulades, seit unserer Fahrt nach Bonn vor ein paar Tagen hat sich nichts Neues ergeben. Frau Birnbaumer-Nüsselschweif scheint sich selbst etwas ins Abseits geschossen zu haben – wie mir zugetragen wurde, scheint ihr Rückhalt in ihrer Kirchengemeinde doch nicht so groß zu sein, wie ich zunächst dachte. Diejenigen, die bei mir anriefen, hatten sich wohl hauptsächlich von ihr dazu anstacheln lassen. Die meisten anderen aktiven Gemeindemitglieder sehen das eher pragmatisch und sind einfach froh darüber, dass Daniel untergebracht ist.
Herr Bauer hat seine Wohnung nun doch nochmals angeboten. Zuerst hatte er gesagt, dass ihm das jetzt, auch wegen des Todes seiner Frau, alles zu viel wird und er gar nicht weiß, ob er hierbleibt oder zu seiner Tochter nach Ulm ziehen wird. Aber offenbar hat ihm seine Tochter anlässlich der Beerdigung das unwiderstehliche Angebot gemacht, auf das alle Senioren sehnsüchtig warten, nämlich ihm in Ulm einen schönen Heimplatz zu besorgen. Ich kann verstehen, dass er lieber hierbleibt.Aber auch die Wohnungsgenossenschaft hat mir eine Wohnung für die Olugulades in Aussicht gestellt, und genau die Wohnung nehmen wir jetzt erst mal. Das hat einen einfachen Grund: Kein Mensch weiß bisher, ob Frau Olugulade überhaupt hierbleiben will, und diese Wohnung der Genossenschaft ist teilmöbliert. Da kann die Familie gleich einziehen, und es macht dem Verwalter auch nichts, wenn sie nach wenigen Wochen vielleicht doch noch in die Bauer-Wohnung umziehen. Zumindest hat die Familie jetzt eine Anlaufstelle.
Vom Jugendamt habe ich jetzt die Unterlagen bekommen. Daniel gibt weiter den Prinzen auf der Erbse, aber wir kommen damit klar. Wenn man das an den passenden Stellen einfach ignoriert, läuft das alles wunderbar.
Seit Kaldawule Olugulade starb, sind sechzehn Tage vergangen, und es wurde dringend Zeit, dass Frau Olugulade kam. Jussip hat die Frau und den neugeborenen Benjamin am Donnerstag hierher begleitet. Wir sind zum Bahnhof gefahren und haben die drei abgeholt. Obwohl Frau Olugulade ziemlich fertig von der Fahrt war, wollte sie zuallererst ihren verstorbenen Mann sehen. Die Nonnen im Krankenhaus hatten ihr erklärt, dass ich Bestatter bin, und sie ging fälschlicherweise davon aus, dass der Verstorbene sich in meiner Obhut befinden würde. Tatsächlich liegt er aber noch in getränkten Tüchern im Rechtsmedizinischen Institut und ist keinesfalls in einem Zustand, der es erlaubt, ihn der Witwe zu zeigen.
Es ist viel zu viel Zeit vergangen, und die Trauerfeier muss jetzt unverzüglich stattfinden. Ich hatte in der Zwischenzeit nochmals im Krankenhaus angerufen und die Schwestern gebeten, bei Frau Olugulade einmal vorsichtig vorzufühlen, ob nicht die Möglichkeit besteht, dass wir den Toten einäschern können und dann nur noch mit der Urne auf sie warten. Das wollte die Witwe aber auf gar keinen Fall.
Jetzt wird es so sein, dass der Verstorbene im kleinen Trauerraum der Rechtsmedizin seine Feier bekommt. Das kostet die Familie nichts, genauso wenig wie die lange Aufbewahrung des Mannes. Die Olugulades sind, wie ich mittlerweile weiß, ja nicht mittellos und bekämen deswegen auf gar keinen Fall öffentliche Unterstützung.
Die Frau hat immer als Krankenschwester gearbeitet, und er studierte, wie ich jetzt erst erfahren habe, Medizin und wollte hier ein Praktikum absolvieren, daher der Umzug. Nebenher hatte er im Ruhrgebiet, wo er zuletzt gelebt hatte, in einem Chemiewerk gearbeitet, weshalb die Polizei – auch das kam mir erst nachträglich zu Ohren – auch dort ermittelt hatte, ob seine tödlichen Atemprobleme eventuell da herrührten.
Frau Olugulade nahm die neue Wohnung gerne an, war sehr dankbar und hat viel geweint, mich und viele andere immer wieder gedrückt, und wir alle haben unseren Spaß mit dem kleinen Benjamin gehabt.
Daniel war heilfroh, dass seine Mutter wieder in seiner Nähe ist, aber von seinem Stolz und seinem an Überheblichkeit grenzenden Selbstbewusstsein nahm er auch in ihrer Gegenwart keinen Abstand. Wir sind übereingekommen, dass Daniel noch zwei oder drei Tage bei uns bleiben sollte, damit sich seine Mutter besser einleben kann und sich nicht um zwei Kinder kümmern muss. Für Jussip war es irgendwie sonnenklar, dass er auch bei uns einziehen kann, aber das ging mir dann doch zu weit. Schließlich nistete er sich auf dem Sofa bei Frau Olugulade ein, denn bis nach der Trauerfeier wollte er bleiben.
Dramatisch wurde es für mich am nächsten Tag. Freitag in aller Frühe, um kurz nach acht, stand Frau Olugulade geschniegelt und gestriegelt bei uns und wollte jetzt ihren Mann sehen. Es halfen keine guten Worte, keine ernsten Worte, kein energisches Nein, sie bestand darauf, sie wurde laut, sie zeterte und heulte, wie es nur Frauen ihrer Herkunft wohl können, sehr theatralisch, aber irgendwie auch alles sehr verständlich.