Was tun? Die Frau wollte unbedingt ihren verstorbenen Mann sehen, der mit Sicherheit nicht schön anzusehen sein würde. Mir blieb nichts anderes übrig, als zwei meiner Männer als Vorhut loszuschicken. Bewaffnet mit allem, was unser Keller an Wiederherstellungsmaterialen zu bieten hat, machten sich Huber und Manni auf den Weg. Meine Aufgabe war es nun, Frau Olugulade zu beschäftigen – und solange es im Raum stand, dass sie dann zu ihrem Mann gebracht wird, war sie auch gefügig, trank Kaffee und redete mit mir und meiner Frau, die das Baby gar nicht mehr hergeben wollte. Anderthalb Stunden dauerte es, bis der Anruf von Huber kam: »Chef, ich lehne jede Verantwortung ab, wir haben alles versucht, und man kann ihn jetzt anschauen, aber schöner ist der im Sterben nicht geworden.«
»Wie schlimm ist es?«, wollte ich wissen.
»Na ja, obduziert halt, Y-Schnitt in Brust und Bauchraum, ein Kniegelenk als Gewebeprobe entnommen, den Kopf geöffnet. Außerdem …« Huber zögerte.
»Los, was ist?«
»Nun, der ist ganz grau, der sieht gar nicht mehr aus wie ein Neger, sondern einfach nur hellgrau.«
»Können wir es der Frau zumuten, ihn anzuschauen?«
»Also, wir haben ihm ein Tuch um den oberen Teil des Kopfes gelegt, das sieht eigentlich sogar ganz gut aus. Einen Talar hat er an, die Hände haben wir gefaltet und einen schmalen schwarzen Schleier drumgewickelt, die sehen nicht mehr gut aus. Im Gesicht können wir nichts machen. das gibt der Zustand der Haut nicht mehr her. Sagen wir es mal so: Wenn die tapfer ist und ihn nicht anfassen will, dann geht’s.«
Ich gehe zu den Frauen und dem Baby zurück und frage Frau Olugulade, wo denn Jussip sei. Ja der schlafe noch, aber er habe ein Mobiltelefon. Also rufe ich Jussip an; der meldet sich auch schon beim dritten Anruf und verspricht, sofort zu kommen. Fünfunddreißig Minuten später ist er endlich hier; ich nehme ihn beiseite und bespreche mit ihm die Situation. Er wird leichenblass, und ganz entfernt bekomme ich eine Vorstellung davon, wie Herr Olugulade jetzt wohl aussehen könnte. Aber Jussip verspricht, uns hilfreich zur Seite zu stehen und die Frau davon zu überzeugen, dass sie ihren Mann nicht anfassen oder gar küssen kann.
Unterwegs war mir noch die Idee gekommen, dass es vielleicht gut gewesen wäre, auch einen Pfarrer mitzunehmen, aber dafür war es jetzt zu spät. Langsam näherten wir uns der Tür, Huber trat zur Seite, und ich drängelte mich vor, um der Erste zu sein. Insgeheim hatte ich vor, die Situation sofort zu beenden und den Besuch bei Herrn Olugulade doch nicht zuzulassen, wenn es zu schlimm wäre. Meine Augen waren überall, in Sekundenbruchteilen hatte ich die Situation erfasst, und mein Kopf rauschte. In diesem Moment wusste ich, dass man den Besuch zulassen konnte, ich war mir aber auch klar darüber, dass ich tierische Kopfschmerzen bekommen würde. Mir war das alles etwas zu viel. Doch nun war Frau Olugulade die wichtigste Person.
Der Raum ist nur etwa 25 Quadratmeter groß. Eine Wand hat man mit einem weißen Vorhang sehr hübsch geschmückt. In der Mitte hängt ein großes Kruzifix, direkt darunter steht der offene Sarg. Auf großen Kerzenständern brennen auf jeder Seite jeweils sechs Kerzen; die Stühle, die für kleine Trauerfeiern da sind, stehen gestapelt hinten in einer Ecke. Herr Olugulade sieht, wie zu erwarten war, wirklich nicht gut aus.
Seine Haut hat die Farbe von Recyclingpapier, aber unsere Männer haben ihn schön eingebettet; der Talar, die Decke und das weiße Tuch, das er oben um seinen Kopf trägt, helfen ungemein. Er sieht fast aus wie ein toter Pharao.
Frau Olugulade hat Benjamin auf dem Arm und Daniel an der Hand.
Langsam nähert sie sich dem Sarg, wir halten Abstand – gerade so viel, dass man mit einem Schritt bei ihr sein kann. Ich habe keinen Schimmer, was man in Nigeria alles am Sarg veranstaltet, und ich weiß nicht, was auf mich zukommt. Direkt neben dem Sarg bleibt die Frau stehen, Daniel steht neben ihr und macht große Augen. Mit der Hand fährt sie über die Kante des Sarges, dann über die Decke. Ganz nah geht sie an das Gesicht ihres Mannes, und Jussip sagt: »Sie will spüren, ob er wirklich nicht mehr atmet.« Dann nimmt Frau Olugulade den kleinen Benjamin, dreht ihn in Richtung seines toten Vaters und spricht. Ich verstehe nicht, was sie sagt; Jussip erklärt: »Sie stellt dem Vater seinen Sohn vor und dem Sohn seinen Vater.«
Nach drei oder vier Minuten kniet die Frau sich hin, Daniel auch, und wir anderen tun es ihr gleich. Dann betet sie das Vaterunser auf Englisch, und wir beten mit ihr, jeder in der Sprache, die ihm am besten liegt – und verdammt noch mal, ich gebe es zu, ich habe schon wieder heulen müssen.
Als das Gebet beendet ist, steht sie auf, dreht sich um und verlässt mit ihren beiden Kindern den Raum, ohne den toten Mann noch einmal anzuschauen. Huber und Klaus machen den Deckel zu, und wir gehen zu der Frau.
»Ein schönes Hemd«, sagt sie zu mir und nickt, und ich glaube Dankbarkeit in ihren Augen zu sehen, aber sicher bin ich mir nicht. Ihr Gesicht ist sehr ernst, was soll man auch anderes erwarten.
Die Trauerfeier war dann schon am folgenden Tag. Diesmal war natürlich der Pfarrer da, und sogar ein Harmonium wurde gespielt – dass da eins steht, war mir beim ersten Besuch gar nicht aufgefallen.
Die Situation war weitaus weniger bedrückend, nachdem der Sarg jetzt geschlossen und mit einem kleinen Gesteck geschmückt war. Die Damen vom Mütterkreis waren gekommen und – genau – die Birnbaumer-Nüsselschweif! Zwei Leute kannte ich gar nicht, und ansonsten waren bis auf Frau Büser alle Mitarbeiter der Firma da.
Nach der bewegenden kleinen Trauerfeier für den verstorbenen Afrikaner fuhr ich Frau Olugulade, die beiden Kinder und Jussip nach Hause. Ein Zuhause! Das war etwas, mit dem Frau Olugulade gar nicht gerechnet hatte, und wie es schien, gefiel ihr die Wohnung, denn sie erzählte mir von Plänen bezüglich der Einrichtung und Gestaltung. Das macht man ja nur, wenn man da auch bleiben will.
Daniel blieb noch eine Stunde bei seiner Mutter, dann kam er zu uns: »Mama schläft jetzt, sie ist ganz müde.«
Der Junge musste noch bei uns bleiben, seine Mutter war nach der Geburt und dem Verlust ihres Mannes gar nicht in der Lage, sich um zwei Kinder zu kümmern. Das schien Daniel auch zu spüren, denn er klagte nicht, beschwerte sich nicht und nahm es einfach als Selbstverständlichkeit hin, dass er bei uns wohnte und seine Mutter nur besuchte.
Mir war daran gelegen, ihn und seine Mutter etwas aufzubauen, denn ein weiterer schwerer Gang stand uns ja noch bevor.
Nach der Trauerfeier war Herr Olugulade ja von unseren Fahrern Freddy und Manni ins Krematorium gebracht worden und würde dort nun bald eingeäschert.
So war die Beisetzung der Urne für die kommende Woche terminiert. Ich hatte ein kleines Urnengrab auf unserem Friedhof im alten Teil besorgt. Wo sollte Herr Olugulade denn sonst auch hin?
Ja, wo sollte er denn hin?
Das erklärte mir dann meine herzallerliebste Busenfreundin Frau Birnbaumer-Nüsselschweif.
Die klingelte mich nämlich am Tag der Trauerfeier noch gegen 21.30 Uhr vom Fernseher weg und stand in wallendem Mantel vor der Tür: »Also, ich muss jetzt sofort mal mit Ihnen sprechen, das geht ja jetzt so gar nicht!«
Kurz dachte ich daran, sie einfach umzuschubsen oder ihr die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber ich war doch zu neugierig und wollte erfahren, was sie mir zu berichten hatte. Auch wollte ich eigentlich an der Tür stehen bleiben und sie dort abfertigen, aber das hätte es mit sich gebracht, dass auch ich hätte stehen bleiben müssen, und dazu bin ich abends um halb zehn zu faul.
»Kommen Sie herein«, sagte ich und führte sie in die Halle, wo ich ihr einen Platz auf dem Sofa anbot.
»Ich und meine Afrika-Gruppe, wir sind der Meinung, dass Sie etwas Unrechtes tun, wenn Sie den armen Mann hier in fremder Erde verscharren.«