Etwas später spreche ich mit Frau Olugulade, und ich kann diese Situation nicht richtig wiedergeben. Sie zeigt Entsetzen, das ist ganz eindeutig zu erkennen. Die Situation ist für sie bedrohlich, und sie hat auch Angst, das erkennt man auch. Aber sie setzt ein Lächeln auf, ein falsches Lächeln, und erklärt, dass sei so in Nigeria, da sei eben jeder mit jedem verwandt, und das habe alles seine Richtigkeit.
Ich sehe aber deutlich, dass sie mich anlügt, und erkläre ihr, um sie zu beruhigen, dass sie nicht mit den Männern zusammentreffen muss, ich könne das abblocken. »Nein, ich muss!«, sagt sie. »Ich muss mit denen sprechen, sonst gibt es große Probleme!«
Gestern dann kam Jussip, wie versprochen, wieder. Mit einem Teddybären für den kleinen Benjamin und einem Federballspiel für Daniel stand er am Bahnhof, wo ich ihn abholte.
Unterwegs erzählte ich ihm von den nigerianischen Herren, die mir einen Besuch abgestattet hatten, und Jussip nickte nur mit zusammengekniffenen Lippen.
Auf dem Display meiner Kamera zeigte ich ihm dann später das Bild der Männer, er kannte keinen davon. Nein, er sei nicht verwundert, dass die sich so einfach haben fotografieren lassen, das sei denen egal, die Typen wechselten so schnell, und einer sei sowieso wie der andere. Das machte mich neugierig. Vielleicht weiß Jussip mehr?
Das sei alles sehr kompliziert, und er habe so etwas schon befürchtet. Man müsse wissen, dass Nigeria lange eine Diktatur gewesen sei. Es habe ein politischer Filz ohnegleichen geherrscht und eine große Unterdrückung gegeben. Damals sei es nichts Ungewöhnliches gewesen, dass der nigerianische Geheimdienst überall, wo sich Nigerianer im Ausland aufhielten, seine Leute hatte. Es ging den Machthabern darum, die jungen Nigerianer im Ausland unter Kontrolle zu behalten, damit sie zwar im Rahmen internationaler Programme eine gute Ausbildung genossen, dann aber sichergestellt war, dass sie ihre Fähigkeiten auch in Nigeria einsetzten.
Manche seien gar mit Gewalt dazu gedrängt worden, wieder in die Heimat zurückzukehren. Jussip nennt Namen, erwartet dass ich diese kenne, aber ich befürchte, dass das afrikanische Allerweltsschicksale sind, für den Einzelnen dramatisch, uns überhaupt nicht bekannt und von uns auch ignoriert. Mittlerweile gebe es zwar eine Demokratie, aber das sei ja alles noch ziemlich chaotisch in Nigeria. Es gebe überall Milizen, Untergrundgruppen und Geheimbünde, in denen genau die gleichen Leute wie früher nach wie vor operierten und mit Korruption, mafiaähnlichen Strukturen und viel krimineller Energie die Macht auf ihre Weise sicherten. Die Regierung bekomme das nicht in den Griff, es gebe ganze Regionen in Nigeria, in die sich kein Polizist, kein Soldat und kein Regierungsbeamter traue, weil dort die Macht der Geheimbünde oder bewaffneten Gruppen so groß sei.
Diese Leute, die heute noch im Ausland unterwegs sind, das seien genau die gleichen, die das schon immer gemacht haben. Nicht dieselben Männer und Frauen, die wechseln immer schnell, aber es ist die gleiche Gruppe, die gleiche Struktur. Nur sei der Auftraggeber eben jetzt kein Diktator, ja nicht mal die Regierung, sondern irgendwelche dubiosen Machtstrukturen in Nigeria. Ziel und Zweck ist es nach wie vor, die im Ausland lebenden Nigerianer als Vaterlandsverräter hinzustellen, Druck auszuüben und sie zur Heimkehr zu bewegen. Beliebtes Mittel sei, vorderhand ehrfürchtig von den Lieben daheim in Nigeria zu sprechen, jeder aber wisse, dass das auch heißen kann, dass den in Nigeria Verbliebenen Ungemach drohen kann, wenn man sich nicht in der gewünschten Weise verhält.
Was denn diese Leute von der Familie Olugulade wollen, will ich von Jussip wissen. Er zuckt nur mit den Achseln und meint: »Nichts. Gar nichts. Die machen das einfach, weil sie es schon immer so gemacht haben, und wissen eigentlich gar nicht, warum, wozu und für wen.«
Im Grunde müsse man jetzt der Familie Beistand leisten, die Frau etwas abschotten, aber unbedingt einen Kontakt zu den Männern zulassen.
»Warum das denn?«, will ich wissen, und Jussip erklärt: »Weil die sonst keine Ruhe geben. Die wollen ihr Programm abspulen und erst wenn sie merken, dass das nichts bringt, werden sie nachlassen.«
Nein, es sei nicht zu befürchten, dass die der Frau oder den Kindern etwas tun. Im Grunde sei die Familie jetzt sicherer als zuvor. Als der Mann nämlich noch gelebt habe, seien solche Männer immer mal wiederaufgetaucht. Jetzt sei der werdende Arzt ja tot, und was will man in Nigeria mit einer Krankenschwester und zwei kleinen Kindern.
Eine komplizierte Sache, ich nehme mir vor, mich da mal ein bisschen einzulesen. Mehr, als dass Nigeria in Afrika liegt, weiß ich nämlich auch nicht.
Wir bereiten uns auf die Urnenbeisetzung von Herrn Olugulade vor. Ein kleines Urnenreihengrab, direkt an der Mauer des Friedhofs soll es werden. Frau Olugulade ist manchmal nicht zu verstehen. In einem Moment erklärt sie, eine Feuerbestattung sei gar nichts, im nächsten Augenblick kommt dann wieder eine Erdbestattung nicht in Frage. Man würde etwas flapsig sagen: Sie ist völlig durch den Wind.
Eine Feuerbestattung hat auch Jussip, der Freund der Familie, für gut befunden. Zwar erklärt die Witwe, dass sie auf keinen Fall jemals nach Nigeria zurückkehren möchte, aber immerhin hätte sie in diesem Fall die Möglichkeit, die Urne mitzunehmen.
Ja, das mit dem Zurückkehren nach Nigeria, das ist noch so ein Thema.
Einen Tag zuvor stand Frau Birnbaumer-Nüsselschweif in der Tür. Unser Haus ist immer Dreh- und Angelpunkt für alle und Anlaufstelle für Familien, Vereinsamte, Merkwürdige und Streithammel. Ich habe schon oft überlegt, warum das so ist. Wahrscheinlich liegt es daran, dass wir ein sehr offenes Haus führen und viele Dienstleistungen unter einem Dach bieten. Schon allein, dass man bei uns seine Verstorbenen so besuchen kann, wie es einem beliebt, führt dazu, dass die Leute häufiger kommen, und wenn sie schon mal da sind, dann reden sie entweder gar nichts, oder sie erzählen ganz viel.
Und ich bin ja nun ein Misanthrop und Grantler, der nicht mit jedem gleich ein langes, fröhliches Schwätzchen hält. Gerade das aber ist es, was die Leute wohl schätzen, dass ich einfach zuhöre, den Gemütlichen gebe und Verständnis für sie und ihre Lage aufbringe.
Es ist wohl so, weil ich niemals Anteilnahme heuchle und immer auch klar sage, dass das mein Geschäft, mein Beruf ist. Die Fronten sind geklärt, keiner geht von falschen Voraussetzungen aus. Wir helfen den Menschen in einer schwierigen Situation, aber wir sind keine selbstlose Samariter.
Die Birnbaumer-Nüsselschweif hat so einen Wallewalle-Mantel an, so ein Ding, bei dem man nicht genau weiß, ob es ein Mantel, ein Cape, ein Umhang oder eine Wolldecke mit Schal ist. Irgendwo aus zwei Öffnungen an den Seiten schießen ab und zu ihre Hände hervor und fuchteln mir vor dem Gesicht herum. »Die Afrika-Gruppe, wie auch der Mütterkreis und überhaupt alle sind ja der Meinung, dass der Familie am besten geholfen ist, wenn sie in die Heimat zurückkehrt.«
Ach nee, ganz neue Töne. Es ist noch gar nicht so lange her, da sah die Birnbaumer das Heil der Familie allein darin, dass sie sich höchstpersönlich um die Kinder kümmere. Was hat sie nicht alles in Aussicht gestellt, wie sie der Familie einen dauernden Aufenthalt hier in Deutschland ermöglichen würde. Und jetzt? Das sieht mir doch verdammt nach Sandkuchen-Plattdrücken aus.
Man kennt das doch: Das kleine Nüsselschweifchen sitzt im Sandkasten, die Kinder backen mit Förmchen aus Sand Kuchen und lassen das dicke, hässliche Nüsselchen nicht mitschweifen. Und weil sie nicht mitspielen darf, haut sie dann eben den anderen Kindern die Sandkuchen kaputt. Wenn ich nicht mit dem Kuchen spielen darf, sollt ihr es auch nicht.
Nur dass der Kuchen jetzt eine dreiköpfige Familie ist.
Ich sehe überhaupt keinen Grund, dass Frau Olugulade, Daniel und Benjamin nach Nigeria zurückkehren sollten. Der einzige Grund, den es geben könnte, wäre der Wunsch der Betroffenen, und die wollen das auf gar keinen Fall.