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»Wie es aussieht, ist der Mann in betrunkenem Zustand einfach die Treppe hinuntergefallen und hat sich das Genick gebrochen und einen Schädelbruch erlitten. Er war sofort tot«, setzt uns ein Polizeibeamter in Kenntnis.

Man diskutierte eine Weile und kam zu dem Ergebnis, dass Herr Anderle die gegenüberliegende Tür zum Gästeklo mit der Kellertür verwechselt haben müsse, und statt vor den Bottich der Erleichterung zu treten, hätte er dann wohl einen Schritt ins Leere der Kellertreppe gemacht. Darauf deutete jedenfalls der Umstand hin, dass er seinen Hosenlatz geöffnet hatte.

»Und was ist mit seiner Frau?«, wollte Frau Brondes wissen. Der Polizist grübelte kurz und sagte: »Da werden wir jetzt hinfahren und es ihr schonend beibringen.«

Das brauchten die Beamten aber gar nicht, denn just in diesem Moment tauchte Frau Anderle am Ort des Geschehens auf und wurde sogleich von den Anwesenden beiseitegeführt und über die Ereignisse informiert. Man kann sich vorstellen, was das für sie und die Brondes für eine Aufregung war.

Es sei ihr zwar aufgefallen, erzählte Frau Anderle dann, dass ihr Mann von der Feier verschwunden sei, aber sie habe angenommen, dass der einfach nach Hause gegangen sei: »Das macht der immer so, wenn er genug hat.« Später sei sie selbst auch aufgebrochen, aber ihr Mann sei dann gar nicht da gewesen.

Da habe sie geglaubt, dass er sich vielleicht mit schwerem Kopf bei den Brondes ins Gästezimmer gelegt habe, auch das sei schon mal vorgekommen.

Bitterer Nebeneffekt: Nie wieder würde Herr Brondes so Geburtstag feiern können, wie er es bisher immer getan hatte, jeder würde sich sofort daran erinnern, dass an diesem Siebzigsten ein Mann die Kellertreppe hinuntergefallen ist.

Damit das nicht so kommt, schlug Herr Brondes vor, das gemeinsame Kaffeetrinken der Trauergäste auch in seinem Haus abzuhalten, was Frau Anderle angenommen hat. Man versuchte so, wenigstens halbwegs einen Schlussstrich unter die Sache zu ziehen.

Trotzdem: Es ist immer besonders bitter, wenn ein geliebter Mensch an einem besonderen Tag verstirbt, an Geburtstagen oder an Weihnachten zum Beispiel.

Oma Gretel

Wie lange hält heutzutage eine Ehe im Durchschnitt? Sind es vier Jahre? Ich kann das nicht verstehen, für mich persönlich ist eine Ehe etwas Bleibendes. Dass Beziehungen sich auch mal schlecht entwickeln und die Menschen auseinandergehen, das kommt vor, aber ich glaube, dass die Leute die Flinte zu früh ins Korn werfen und zu schnell aufgeben. Aber es gibt sie ja noch, die anderen Beispiele …

Gretel und Paul Schellinger waren über sechzig Jahre verheiratet, und sicher hatten auch sie schwere Zeiten, aber sie hatten nie aufgegeben und konnten daher im letzten Jahr zur diamantenen Hochzeit ein Gratulationsschreiben vom Landrat in Empfang nehmen, das der Ministerpräsident persönlich unterschrieben hatte.

»Sechzig Jahre, meine Güte, das ist eine verdammt lange Zeit. Und wissen Sie, mein Mann war manchmal schon etwas schwierig, wie Männer eben so sind. Aber er war ein guter Mann. Jeden Morgen hat er mich mit den Worten ›Ich liebe Dich‹ begrüßt und mir einen Handkuss gegeben. Jeden Morgen, sechzig Jahre lang.«

Leicht sei das alles nicht gewesen, und oft genug habe es Zeiten gegeben, da seien das Leben und die Ehe nur so dahingeplätschert, und man sei einfach nur aus Gewohnheit beieinander geblieben.

»Jüngere Leute«, sagt Frau Schellinger zu mir, »hätten da schon lange aufgegeben, aber wir hatten doch nur uns.«

Während sie das sagt, streichelt sie die Hände ihres Mannes, doch ob der davon noch etwas mitbekommt, weiß man nicht wirklich, jedenfalls kann er es uns nicht mehr sagen, denn Paul Schellinger ist tot.

Oma Gretel, so nennt sie sich selbst, sitzt neben dem Bett ihres Mannes, streichelt seine Hände, wischt mit einem Taschentuch über seine Stirn und erzählt mir: »Erst waren wir verliebt, da waren wir noch ganz jung, und Paul musste in den Krieg. Als er zurückkam, haben wir geheiratet und hatten dann einfach keine Zeit mehr, verliebt zu sein. Es gab nichts zu essen, wir waren ausgebombt, und ein kleines Kind hatte ich da auch noch durchzubringen.«

Arbeit, tägliche Besorgungen, der Kampf ums Überleben, das prägte die ersten Jahre der jungen Familie, und als es dann allen wieder ein bisschen besserging, da musste Paul Schicht arbeiten, und wieder war nur wenig Zeit für die Liebe.

»Und trotzdem, wir haben uns geliebt. Dieser Mann ist der Mann meines Lebens«, sagt Oma Gretel, schaut auf ihren toten Paul und verbessert mit zögerlicher Stimme: »War.«

Wieder streichelt sie ihren Mann, und dicke Tränen rollen über ihre Wangen. »Was soll ich denn jetzt ohne ihn machen? Ich hatte doch nur ihn.«

Einen Sohn haben die Schellingers gehabt, doch der ist selbst schon vor drei Jahren gestorben, war unverheiratet und kinderlos geblieben.

Ich sitze neben Oma Gretel, drehe sie etwas beiseite und mahne, dass wir jetzt weitermachen müssen. Schon eine halbe Stunde sind wir da und warten darauf, dass wir Herrn Schellinger mitnehmen können. Wir haben Oma Gretel vorgeschlagen, ihren Mann noch über Nacht bei ihr zu lassen, damit sie Abschied nehmen kann, aber das wollte sie nicht.

Meine beiden Bestattungshelfer treten verlegen von einem Bein auf das andere, doch Oma Gretel macht keine Anstalten, ihren Paul herzugeben. »Wir müssten dann jetzt«, sagt der eine, und Oma Gretel nickt, lässt aber die Hände ihres Mannes nicht los. Die beiden Männer schauen einander an, nicken sich zu und bringen die Leichentrage ins Zimmer. Einer der Männer nimmt Oma Gretel bei den Schultern und führt sie behutsam in den Gang.

Der Rest geht schnell. Paul liegt wenig später auf der Trage, und als die Männer gerade den langen Reißverschluss zuziehen wollen, kommt Gretel noch mal herein, beugt sich über ihren Paul und flüstert ihm zu: »Ich liebe dich, Paul. Warte auf mich, ich komme auch bald!«

Am nächsten Morgen sitzt Oma Gretel Schellinger bei mir im Büro, und ihre erste Frage lautet: »Kann ich später zu meinem Paul ins Grab?«

Das kann sie, wenn sie ein Familien- oder Doppelgrab kauft, aber Oma Gretel zählt mir in bar das wenige Geld auf den Tisch, das sie für die Bestattung übrig hat, und ich sehe sofort, dass das auf keinen Fall für ein Doppelgrab reicht. Egal wie ich auch rechne und wie viel ich ihr auch entgegenkomme, ich schaffe es mit dem wenigen Geld nicht, ihr das gewünschte Familiengrab zu ermöglichen.

»Aber ich will doch zu meinem Paul ins Grab«, protestiert sie.

Ich habe Mitleid mit der Frau und trockne ihre Tränen mit einem Taschentuch, aber ich weiß auch keinen Ausweg. Zu groß ist der Preisunterschied zwischen einem Reihengrab und einem Doppelgrab.

»Und was ist, wenn ich gleich zwei Reihengräber nehme, eins für meinen Paul und eins später für mich, direkt daneben?«

»Das geht nicht. Die Stadtverwaltung vergibt die Reihengräber der Reihe nach, deshalb heißen sie so – der Nächste, der stirbt, bekommt auch das nächste Grab«, kläre ich sie auf.

Ein Reihengrab kostet 800 Euro, das günstigste Doppelgrab fängt bei 2500 Euro an. Außerdem müsste Oma Gretel nachweisen, wer nach ihrem Tod das Grab pflegen würde – man müsste also sogar noch einen Grabpflegevertrag abschließen. Für all das hat sie einfach nicht genug Geld. Ihr Mann war über 80, sie ist 78 und damit gerade noch nicht zu alt, um eine Sterbeversicherung abzuschließen. Dazu rate ich ihr, und wir sprechen lange über alles, denn wenn sie selbst mal stirbt, soll doch wenigstens für ihre eigene Beerdigung genügend Geld da sein, als das sie jetzt schon alles für ihren Paul ausgibt.

So besprechen wir einerseits die Beerdigung von Opa Paul und andererseits ihre eigene Bestattung, doch wie wir es auch drehen und wenden – ein Doppelgrab springt nicht dabei heraus.