Ich bin erleichtert und will mich gerade bei ihm bedanken, da zieht er die Augenbrauen hoch und sagt: »Dann müsst ihr die alte Frau aber auch einen Tag früher beerdigen. Das geht ja der Reihe nach.«
Gut, das bekomme ich hin, es kommt ohnehin bloß ein älteres Ehepaar aus der Nachbarschaft, die Betreuerin und der Pfarrer.
Zwei Tage später ist die Beerdigung von Oma Gretel. Auch ich bin gekommen – irgendwie ist sie mir doch ans Herz gewachsen, und ich bin der Einzige, der weiß, dass sie so im Sarg liegt, dass ihr Kopf ganz leicht nach links zeigt. So schaut sie wenigstens zu ihrem Paul, der jetzt genau neben ihr liegt, so wie sie es sich gewünscht hat.
Jäger und Sammler
Die allermeisten Leute sterben heutzutage ja im Krankenhaus oder Pflegeheim. Nur die wenigsten sterben zu Hause. So spielt sich der Bestatteralltag oft zwischen weißen Krankenhauskacheln und in den betonierten Kellern von Altenheimen ab. Kommt man aber mal zu den Familien ins Haus, dann kann man oft einiges erleben und berichten.
Frau Klemperer kommt und hat Sterbepapiere in der Hand – man muss dann nicht fragen, was sie will, das sehen wir sofort. Ihr Bruder ist verstorben, gestern Abend, in seiner Wohnung. Soweit nichts Ungewöhnliches, doch ich merke gleich von Anfang an, dass da noch irgendetwas ist, aber sie rückt mit der Sprache nicht heraus.
Eine Feuerbestattung soll es werden, keine Trauerfeier, direkt zum Einäschern.
Später dann, wenn die Urne beigesetzt wird, soll ein Pfarrer kommen, es werden eh nur zwei oder drei Leute am Grab sein.
»Mein Bruder hat ganz alleine gelebt.«
Ja und? Nun komm endlich raus mit der Sprache, ich merke doch, dass da noch was ist.
»Seine Lebensumstände waren, sagen wir es mal so, etwas ungewöhnlich.«
Hopp!
»Haben Sie so eine Leichenbahre aus Stoff?«
Ich glaube zu wissen, was sie meint, und nicke nur.
»Das wird nämlich so eine Sache mit dem, wenn Sie den nachher aus der Wohnung holen.«
Mir bleibt nichts anderes übrig, als sie weiterhin erwartungsvoll anzuschauen.
Ja, der Bruder habe im Gartengeschoss gewohnt, was ja für gewöhnlich nichts anderes heißt, als dass die Wohnung im Keller liegt, aber Fenster hat, die Tageslicht hereinlassen. Aber wir sollen bitte auf so einiges gefasst sein, der Bruder sei eine Art Sammler gewesen. Am besten sei es, wenn wir genau um 8 Uhr hinfahren, weil dann auch der Verwalter kommt. Frau Klemperer will später wiederkommen und noch das Stammbuch bringen.
Unsere Männer fahren los, es sind so knapp zehn Kilometer bis zur angegebenen Adresse. Sie haben die Scherentrage, eine Falttrage und einen Tragesack dabei. Normalerweise sollte es nur eine knappe Stunde dauern, bis sie wieder zurück sind, doch nach 45 Minuten rufen sie an und fordern Unterstützung an. »Wir brauchen hier noch zwei Mann.«
Manni, der Fahrer, und ich fahren los; wir gehen davon aus, dass der Verstorbene ziemlich korpulent ist. Doch als wir dort ankommen, erwartet uns etwas ganz anderes. Schon an der Haustüre begrüßt uns ein unfreundlicher Kerl mit den Worten: »Das wird aber auch Zeit! Glauben Sie, ich habe hier ewig Zeit, oder was?«
Wir nicken ihm nur zu und gehen an ihm vorbei. Vier, fünf Stufen sind es, die nach unten führen. Unten gibt es zunächst einmal eine ganze Batterie von Stromzählern an der Wand, links ist eine Wohnungstür, rechts steht eine offen. Wieder ist der Verwalter da, er sprüht uns mit einer Sprayflasche zwischen den Füßen herum und schiebt uns in Richtung Wohnungstür.
Wenn ich schreibe, dass die offen steht, dann ist das nur die halbe Wahrheit, denn sie steht nur halb offen und lässt sich auch keinen Millimeter weiter öffnen. Der Flur hinter der Tür ist mit Stapeln von Zeitungen und Zeitschriften ausgefüllt, die bis unter die Decke reichen. Man kann nur einen guten Meter weit in den Flur vordringen, dann muss man nach rechts in die Küche abbiegen. Der Flur ist regelrecht mit Zeitungsstapeln zugemauert.
Die Küche ist ein Alptraum! Plastikflaschen, Glasflaschen, Hunderte … Überall Plastiktüten mit Müll, jede Menge Geschirr und Töpfe mit vergammelnden Essensresten, und überall krabbelt es. Man weiß nicht, wo man seine Füße hinsetzen soll. Manni kramt zwei Paar Überzieher für die Schuhe aus der Jackentasche, wir ziehen sie über. Außerdem ziehen wir Gummihandschuhe an. Von der Decke baumelt an einem Draht eine Glühbirne, der Rollladen ist heruntergelassen.
»Was da so knistert, das ist das Ungeziefer«, sagt der Verwalter, der einfach mitgelaufen ist, und sprüht weiter. Links geht es in ein weiteres Zimmer, und ich höre von dort die Stimmen meiner Männer, also müssen wir da entlang. Der Gestank ist unbeschreiblich, moderig, faulig, angebrannt, man kann kaum atmen.
Im Nebenzimmer stehen bis unter die Decke gestapelt auf der einen Seite Bananenkartons und auf der anderen Seite alle Arten von elektrischen Haushaltsgeräten, vom Bügeleisen bis zum Toaster, das wenigste davon gebrauchsfähig, wie man auf den ersten Blick sieht. Zwischen dem Gerümpel bleibt ein Gang von kaum 20 Zentimeter Breite, und man muss sich schon quer hindurchschieben, um in den nächsten Raum zu gelangen. Besonders dick kann der Verstorbene nicht gewesen sein.
Das nächste Zimmer erreicht man wieder über den Flur. Wir befinden uns also hinter der vorher beschriebenen Wand aus deckenhoch gestapelten Zeitschriften. Auf dieser Seite sind Bretter eingezogen und darauf zahlreiche Plastiktüten bis unter die Zimmerdecke gestopft. Man muss den Kopf einziehen, sich quer weiterschieben und wie in einem Labyrinth mehrfach um irgendwelche Türme aus Kartons, Kästen oder Zeitschriften herumlaufen. Da kommt man wirklich mit keiner normalen Trage durch. In diesem Zimmer, es liegt am Ende des Gangs, sind meine beiden Fahrer, und dort liegt auch der Verstorbene. Es ist nicht sonderlich viel von ihm zu erkennen. Man kann nicht einmal richtig bestimmen, ob das da auf seinem Kopf eine Mütze ist oder ob es seine Haare sind. Ein kleiner Mann, der auf einem Schlafsack am Boden liegt, die Augen totenstarr geöffnet, um ihn herum einige Paare Gummihandschuhe, auf seiner Brust einige aufgeklebte Einwegelektroden, die üblichen Anzeichen dafür, dass ein Notarzt da war. Es riecht, als läge er schon wochenlang in der Wohnung, aber er ist tatsächlich erst gestern verstorben. Ein paar goldmessingfarben glänzende Käfer huschen über den in Fäden liegenden Teppich.
Meine Männer arbeiten mit Stirnlampen, wie Bergleute, das Licht im Zimmer kommt von einer 25-Watt-Birne, wird aber durch von der Decke baumelnde Gegenstände abgeschirmt. An das Fenster kommt man gar nicht heran. Unsere Aufgabe ist es, den Mann da herauszuholen – aber wie? Es würde mindestens zwei Tage dauern, bis eine Entrümpelungsfirma wenigstens so viel von dem angesammelten Zeug weggeräumt hätte, dass wir halbwegs geradeaus mit der Trage herein- und mit dem Verstorbenen darauf wieder hinauskönnen.
Manni meint: »Was ist denn mit dem Fenster?«
»Auch viel Arbeit, bis wir da einen Weg freigeschaufelt haben«, sagt einer der beiden anderen Fahrer.
Von irgendwo vorne am Eingang dringen Stimmen zu uns durch. Sie werden lauter, irgendwer kommt, und dann hören wir: »Endlich kommt der weg, das wird aber auch Zeit, die sollen sich mal beeilen, so ein Gestank, mein Gott, was für eine Sauerei, da kommt ja kein Mensch durch!« Es ist eine Frauenstimme, aber wir bekommen die Frau nicht zu sehen – anscheinend schiebt der Verwalter sie wieder hinaus, denn die Stimme entfernt sich wieder.
Ich muss eine Entscheidung treffen, der Mann muss aus der Wohnung. Und das Ganze muss schnell gehen, denn es ist niemandem von uns zuzumuten, noch viel länger in diesem Gestank und Gekrabbel zu bleiben.
»Sacktrage!«, lautet mein Kommando. »Wo wir reinkommen, können wir ihn auch rausbekommen.«