Aber die Meisterin der Frisuren fragte: »Wie issen det nu? Ick har ja schließlich für det Tanzen ooch bezahlt. Kriech ick jetzt Ersatz?«
Es ist kalt
Ob ich manchmal auch weinen muss? Na klar!
Gegen 20 Uhr klingelt es an der Tür, und ich muss mich von meinem bequemen Sofa erheben. Ein Mann steht draußen und entschuldigt sich höflich für die späte Störung. Ob ich ihm ein Kreuz verkaufen könne, fragt er. Ich ahne, was er meint. Er will ein Kreuz und einen kleinen Karton mit roten Friedhofslichtern. Ich frage nicht viel, denn die Leute fangen immer von alleine an zu erzählen.
»Kaffee?«
Er nickt. Ich deute mit dem Kopf auf das Ledersofa in der Eingangshalle, schalte die Kaffeemaschine ein und hole das Kreuz aus dem Lager.
Der Mann hat seine Jacke ausgezogen, und während ich den Kaffee hinstelle, betrachte ich ihn etwas näher. Er sieht gut aus, ist vielleicht in meinem Alter und trägt gepflegte, nicht ganz billige Kleidung. Ich setze mich neben ihn und deute auf das Kreuz, das ich gegenüber an die Wand gelehnt habe.
Er seufzt: »Mein Sohn.«
»Auto oder Moped?«, frage ich, aber er schüttelt den Kopf und sagt:
»Inlineskater.«
»Wie alt?«
»Fünfzehn.«
Er nimmt einen Schluck vom Kaffee, lehnt sich zurück und erzählt. Sein Sohn hat sich am Nachmittag mit einem Freund getroffen, um im Stadtpark mit diesen modernen Rollschuhen zu fahren. Da gibt es einen steilen Weg, auf dem man besonders viel Tempo bekommt und der am Ende ein Stück bergauf geht. Da kann man tolle Sprünge hinlegen, heißt es. Leider mündet der Weg auf eine Straße. Er ist zu mir gekommen, um ein Kreuz zu kaufen, auf das er mit Edding noch »Sven 1992–2007« schreiben möchte, und das will er am Straßenrand in die Erde stecken.
Ich erkläre ihm, dass ich die Schrift für ihn anbringen werde. Normalerweise drucken wir eine Folie mit dem kompletten Schriftzug aus, aber ich habe im Büro nebenan noch einen Setzkasten mit einzelnen Klebebuchstaben, und den hole ich jetzt. Auf dem Weg nehme ich noch die Flasche Kundencognac mit. Schweigend, wie es vielleicht nur traurige Männer können, sitzen wir nebeneinander und basteln aus den Buchstaben den gewünschten Schriftzug zusammen. Ich hebe die Cognacflasche hoch, und er nickt. Einen kleinen Schluck will ich ihm in den Kaffee geben, doch er trinkt seinen Kaffee leer und deutet auf die Tasse: »Den kann ich jetzt gebrauchen.« Ich trinke nicht viel, und Cognac so gut wie nie, aber in dieser Situation schmeckt sogar der. Mann, was haben wir geheult. Wir kannten uns nicht, keiner von uns musste »gockeln«, sondern jeder durfte einfach nur Mensch sein.
Wenn Kinder verunglücken, ist das immer eine riesengroße Scheiße.
Die Flasche war nicht mehr ganz voll, bald ist sie leer. Manfred heißt der Mann, und ich werde seinen Sohn beerdigen.
Am nächsten Abend kommt meine Frau von irgendwelchen Besorgungen nach Hause und sagt zu mir: »Du, da unten sitzt einer auf der Treppe und hat ’ne Flasche dabei.«
Dass da bei uns jemand vor der Tür sitzt und trinkt, das passt mir nicht, das ist kein gutes Bild. Es ist schon beinahe dunkel, und während ich zum Haupteingang gehe, um den Penner zu verscheuchen, schalte ich die Beleuchtung ein. Im aufflammenden Licht sehe ich, dass es Manfred ist. Er wirft mir einen Blick über die Schulter zu, hebt eine volle Cognacflasche hoch und sagt: »Wollte ich zurückbringen, hab mich aber nicht zu klingeln getraut.«
Ich setze mich zu ihm, klopfe eine Zigarette aus der Packung und gebe sie ihm. Feuer hat er selbst, und dann sitzen wir da auf der Treppe und schweigen wieder. Es vergehen bestimmt 15 Minuten, dann sage ich: »Ist kalt, gehen wir rein?«
»Habt ihr ihn schon geholt?«, fragt er, als wir in der Halle stehen. Ja, haben wir. Am späten Nachmittag haben unsere Männer den Jungen von Manfred aus der Pathologie geholt. Der sehe nicht schlimm aus, haben sie mir gesagt. Also sage ich zu Manfred, dass sein Sohn unten ist.
»Ich wollte nur mal gucken, wie er so untergebracht ist.«
Wir fahren mit dem Aufzug runter, und ich zeige Manfred die unteren Räume und das Sarglager. Dann lasse ich ihn auf einem Ballen mit Hobelspänen Platz nehmen, wo er warten soll, während ich ins Kühlhaus gehe. Er muss ja die anderen Toten nicht auch noch sehen, und außerdem will ich erst mal schauen, wie sein Sohn aussieht.
Da liegt er, »Sven B.« steht auf dem Zettel an der Trage. Ich klappe die Seitenteile runter und bin erstaunt. Da liegt der Junge mit strohblondem Haar und ist, soweit man das auf den ersten Blick sehen kann, vollkommen intakt. Zumindest hat er keine Kopf- oder Gesichtsverletzungen.
Ich ziehe die Trage auf ein Rollgestell und fahre Sven hinaus. Langsam erhebt sich Manfred, kommt näher, bleibt einen guten Meter entfernt kurz stehen, dann tritt er schließlich vor die Trage. So ein versteinertes Gesicht habe ich noch nie gesehen, ehrlich nicht. Manfred schaut mich fragend an. Ich weiß nicht genau, was er will, aber ich nicke. Da nimmt er die Hand seines Sohnes, streichelt sie, schließt die Augen und atmet tief durch.
»Kalt«, sagt er. Ich nicke. »Muss wohl so sein«, sagt Manfred. Ich nicke wieder. Was soll ich auch sagen?
»Soll ich Sachen bringen? Zum Anziehen, meine ich?«
»Ja, mach das.«
»Wie ist denn das, wer zieht den denn an?«
»Unsere Männer.«
»Ich meine, das ist zehn Jahre her.«
»Was ist zehn Jahre her.«
»Na, dass ich Sven angezogen hab.«
»Willst du mithelfen, wenn er angezogen wird?«
Manfred schaut mich aus großen Augen an und nickt heftig, während er wohl Tränen hinunterschluckt.
»Kein Problem«, sage ich, »komm einfach morgen vorbei.«
»Ist so kalt, hast du nicht ’ne Decke für ihn?«
Ich deute auf das Regal mit den ganzen Decken und Kissen, und Manfred drückt und knetet sie fast alle, bis er die dickste gefunden hat. Das ist aber ausgerechnet eine, die sich nie verkaufen ließ, mit komischen rosa Maiglöckchen drauf.
»Die ist doch nicht schön«, sage ich.
»Ist egal, die ist warm!«
Wir schieben Sven, der jetzt unter einer dicken Maiglöckchendecke liegt, gemeinsam in den Kühlraum und fahren dann mit dem Aufzug hinauf. Manfred schweigt, bleibt stehen und zögert.
»Ist was?« frage ich, und er nickt: »Können wir das mit dem Anziehen zusammen machen?«
»Klar.«
»Ich mein jetzt.«
»Jetzt? Auch kein Problem.«
»Gut, dann geh ich jetzt die Sachen holen.«
Keine zwanzig Minuten später ist Manfred wieder da, hat eine Plastiktüte in der Hand, und ich sehe, dass er Angst hat vor dem, was da auf ihn zukommt.
Ich lege einen Arm um ihn und sage: »Komm!«
Wenig später stehen zwei erwachsene Männer im gekachelten Keller eines Bestattungshauses und heulen wie die Schlosshunde. Vor lauter Tränen sehen wir kaum, was wir da machen, und trotzdem tun wir es richtig und in aller Ruhe. Man(n) muss da nichts sagen …
»Jetzt ist ihm aber wirklich nicht mehr kalt«, sage ich, etwas Besseres ist mir nicht eingefallen.
Manfred nickt und meint: »Ihm nicht, aber mir …«
Ohne weitere Worte schieben wir den Jungen wieder in die Kühlkammer und fahren mit dem Aufzug hoch.
Ich weiß nicht, wie lange wir in meinem Büro einfach so dagesessen haben, ohne auch nur ein Wort zu wechseln. Dann steht Manfred unvermittelt auf, und ich bringe ihn zur Tür.
Er kommt noch einmal herein, umarmt mich und drückt mich fest an sich, dann geht er hinaus, winkt kurz über die Schulter und schlurft die Straße runter.