Beat. Zunächst glaube ich an einen Schreibfehler, doch dann fällt mir ein, dass die Eidgenossen ja die Angewohnheit haben, ihren männlichen Nachkommen etwas andere Namen zu geben als wir.
»War Ihr Mann Schweizer?«, frage ich deshalb die junge Frau, die da vor mir sitzt. Ich will sie nicht so anstarren, aber es fällt mir schwer, den Blick von ihr zu wenden. So eine schöne Frau habe ich selten gesehen. Blond ist ja sonst nicht so meine Farbe, aber sie ist eine von den Blonden, die keine andere Haarfarbe haben dürften. Ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht, hohe Wangenknochen und schmale, aber ausdrucksvolle Lippen, zwei kleine Grübchen auf den Wangen und Augen so blau wie das Mittelmeer an einem schönen Sonnentag.
»Nein«, sagt sie, und ihre Stimme klingt einfach phantastisch. »Er ist Deutscher, ich glaube, der Opa war Schweizer.«
Die junge Frau heißt Daniela, ist gerade einmal 29 Jahre alt und angestellte Apothekerin. Ihr Mann Beat ist gestern Abend gestorben, er hat sich nach dem Abendessen in seinen neuen Audi gesetzt, wollte es, wie er sagte »mal richtig krachen lassen«, womit er meinte, dass er versuchen wollte, eine verkehrsarme Stelle auf der Autobahn zu erwischen, um herauszufinden, wie schnell sein Auto fährt.
Das mit dem Krachenlassen hat geklappt.
Als unsere Männer an den Unfallort kamen, war es schon nach 22 Uhr. Die Feuerwehr hat Teile des Daches vom Audi abschneiden müssen und mit Hydraulikstempeln die Karosserie auseinandergedrückt. Das viele Blut an Airbag, Armaturen und Sitz zeigt, dass Schlimmes zu erwarten stand.
Die Retter und der Notarzt müssen vor Ort noch fast eine Stunde um das Leben des Mannes gekämpft haben. Es sei aber ein absehbarer und aussichtsloser Kampf gewesen, den man zwar hat kämpfen müssen, den man aber nicht gewinnen konnte.
Fix und fertig sind die Rettungskräfte, die Polizisten haben versteinerte Gesichter, nur einer überspielt den Schrecken mit Schnoddrigkeit und weist unseren Fahrern mit einer Taschenlampe den Weg.
Der Audi ist als solcher gar nicht mehr zu erkennen, und nicht weit davon entfernt steht der Rettungswagen, in dem der Verstorbene in unseren Transportsarg umgeladen werden kann.
»Also hundertvierzig hat der draufgehabt, eher mehr, dann ist der links auf die Begrenzungslinie gekommen, muss hier drüben an die Leitplanke gekommen sein, hat dann einen Drall nach rechts gekriegt und ist quer über die drei Spuren da hinten erst vor die Schilderbrücke und dann vor den Pfeiler«, erklärt der Schnoddrige und schreibt sich den Namen unseres Institutes in sein Notizbuch.
Sandy schlägt im wahrsten Sinne des Wortes die Hände über dem Kopf zusammen, und wir stehen da und wissen, dass viel Arbeit auf uns zukommt. »Hoffentlich will den keiner mehr sehen«, sagt sie, und ich stimme ihr zu. »Machen wir ihn erst mal sauber«, sage ich, und wir beginnen, den Leichnam zu waschen, erst dann kann man sehen, wie schlimm es wirklich ist.
Es ist wirklich schlimm.
»Hören wir mal, was morgen die Angehörigen sagen, und dann sehen wir weiter«, sage ich, und wir bedecken den Toten mit einem weißen Tuch und schieben ihn in die Kühlkammer.
Die Angehörigen? Es gibt nur Daniela und einen Vater, und ich bin froh, dass sie uns den Auftrag erteilt. Die Pietät Eichenlaub, dieses wenig geliebte Großunternehmen mit seinen vielen Filialen, zieht nämlich seit einigen Monaten durch die Altenheime und Kirchengemeinden und macht sogenannte Vorsorgeberatungen. Das sind reine Reklameveranstaltungen, und die haben eben nicht nur zum Ziel, möglichst viele Bestattungsvorsorgeverträge abzuschließen, sondern auch aktuell Sterbefälle zu bekommen. Wir merken das ein bisschen, und so ist es jetzt schon zweimal vorgekommen, dass wir zwar einen Verstorbenen vom Unfallort abgeholt haben, dann aber am nächsten Tag die Angehörigen zur Pietät Eichenlaub gelaufen sind, weil die derzeit auch mit einem »Komplettpreis von nur Euro 599,-« werben.
Es hat zwar noch keiner so eine billige Bestattung dort bekommen, aber zunächst glauben die Leute das ja.
Aber Daniela bleibt bei uns, das ist gut so, und umso mehr will ich mich bemühen, alles besonders gut zu machen, damit sie zufrieden ist.
»Wir haben gerade erst unser Haus bezogen, und für das kommende Jahr hatten wir das erste Kind geplant. Bis dahin wären wir aus dem Gröbsten raus gewesen. Und jetzt das!«
Sie weint und tut das auf die vornehme Art, mehr so in sich hinein, fast schon verschämt.
»Weinen Sie ruhig, das tut gut«, sage ich und gehe einfach mal nach nebenan, lasse ihr die Zeit, lasse sie ein bisschen alleine.
Nach kurzer Zeit komme ich wieder, schaue sie nur an, und sie putzt sich nochmals die Nase. »Ich kann das alles gar nicht glauben, der ist nicht tot, der kann doch gar nicht tot sein, der kann mich doch jetzt nicht alleine lassen …«
Beats Vater war am Morgen mit einem Polizeibeamten da gewesen, und Sandy hatte den Verstorbenen notdürftig hergerichtet. Der Vater hatte nur stumm genickt und war sogleich wieder verschwunden, der Polizist gab uns den Namen des zuständigen Staatsanwaltes. Der aber wollte den Fall schnell vom Tisch haben; es ist nur ein Unfall, der Mann kann bestattet werden.
Seitdem arbeitet Sandy an dem jungen Mann, und das ist auch gut so, denn unvermittelt richtet sich Daniela auf und sagt: »Ich muss ihn sehen!«
Ich weiß, was in ihr vorgeht, sie kann es einfach nicht glauben, sieht die Welt derzeit wie durch Watte und kommt sich vor, als spiele sie eine Rolle in einem Film, ohne das Drehbuch zu kennen.
So ist das nämlich oft, wenn jemand stirbt. Bestatter, Polizei, Friedhöfe, alle nehmen einem alles aus der Hand, es läuft nach einem festgelegten Schema ab, von dessen Stationen man keine Ahnung hat, es läuft sozusagen an einem vorbei, und man hat nicht die geringste Chance, daran teilzuhaben. Einmal darf man vielleicht kurz in der Zelle auf dem Friedhof einen Blick auf einen Leichnam werfen, der einmal ein Geliebter, ein Mann, ein Vater oder ein guter Freund war. Der Bestatter wird sein Bestes gegeben haben, der Tote sieht anständig aus, aber er sieht nicht aus wie der Mensch, den man gekannt hat, fremd, anders, unecht irgendwie; und das bestärkt einen dann noch darin, dass das alles gar nicht wahr sein kann. Es fehlt auch die Zeit, alles muss schnell gehen, man kommt gar nicht zur Ruhe, bekommt gar nicht die Gelegenheit, ganz langsam loslassen zu können, Abschied zu nehmen und seinen Frieden mit der beschissenen Situation zu machen.
»Kommen Sie!«, sage ich, biete ihr meinen Arm an und führe sie zum Aufzug. Wir fahren hinunter. Ich habe extra nicht unten angerufen, habe den Verstorbenen nicht in eine Aufbahrungszelle legen lassen, ich möchte, dass Daniela mit dem Tod konfrontiert wird. Dann kann der Schrecken sich lösen und dann können wir Schritt für Schritt all das ermöglichen, was nötig ist, um ihr den Abschied wenigstens ein bisschen zu erleichtern, ja um diesen Abschied überhaupt erst zu ermöglichen.
Unten angekommen, stehen wir im großen Sarglager, ich führe die junge Frau zu den Särgen, zeige ihr mal, was es da so gibt, nicht im Detail, mir geht es nur darum, dass sie versteht, dass wir in der Realität sind. Dann geht es an den Regalen mit den Decken und Hemden vorbei in Richtung der Kühlkammern. Manni schließt die Türen, als er uns kommen sieht, und stößt einen leisen Pfiff aus. So ist Sandy vorgewarnt, und als wir um die Ecke biegen, hake ich Daniela unter und führe sie in den gekachelten Raum mit den Edelstahlmöbeln, in dem Sandy gerade noch an Beat gearbeitet hat. Nackt, nur mit einem grünen Tuch bis unters Kinn bedeckt, liegt er da. Die Augen sind geschlossen, und von den schweren Gesichtsverletzungen ist nichts mehr zu sehen. Nein, er liegt nicht da, wie man es von den Leichen aus dem Krimi kennt. Das sind lebende Menschen, die nur so tun, als ob sie tot seien. Ein richtiger Toter sieht anders aus, da sieht man, dass da kein Leben mehr in ihm ist.