Daniela bleibt kurz stehen, sagt: »Beat!«, dann schlägt sie die Hände vor das Gesicht, und ich habe das Gefühl, als ob ihre Knie nachgeben. Manni ist sofort zur Stelle, wir stützen sie, aber es hat nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert, dann steht sie wieder fest, geht einen Schritt vor, schaut, geht noch einen Schritt vor und streckt ihre Hand aus, so als ob sie ihren Mann berühren wolle, doch es fehlt ein Zentimeter.
Mit diesem Zentimeter Abstand lässt sie ihre Hand über sein ganzes Gesicht gleiten, dann zieht sie sie zurück, schaut Sandy an und meint: »Ist das nicht ein hübscher Mann? Was meinen Sie?«
Sandy nickt: »Ja, ein klasse Typ.«
Unvermittelt dreht Daniela sich um, und wir gehen wieder, fahren nach oben und sitzen wenig später wieder im Beratungsraum.
»Wie geht es weiter?«, will sie wissen, und ich sage ihr, dass es genau so weitergeht, wie sie es sich wünscht.
»Ich habe doch keine Ahnung«, sagt sie, »ich war als Kind einmal auf der Beerdigung meiner Oma und weiß doch gar nicht, was man da so alles macht.«
Ich schlage ihr vor, dass wir einfach mal einen Sarg aussuchen und dann gemeinsam überlegen, wie der grobe zeitliche Ablauf sein soll. Gerne möchte ich nämlich, dass Daniela nach Hause geht und in aller Ruhe überlegen kann, morgen werden wir dann gemeinsam ein Abschiednehmen erarbeiten.
Sie entscheidet sich spontan für einen großen Sarg in schwarzem Klavierlack. Der sei genauso glänzend und schwarz wie der Audi.
Ein Totenhemd will sie auf keinen Fall. Ich sage: »Dann suchen Sie für ihn aus, was Sie für richtig halten. Bringen Sie morgen einfach alles mit.«
»Soll ich das in einen Koffer tun?«, fragt sie, und ich nicke: »Ja, nehmen Sie einen kleinen Koffer und packen Sie den für Beat, tun Sie da alles rein, was er mitnehmen soll.«
Kurz huscht ein Strahlen über ihr Gesicht, und die schönen blauen Augen leuchten für eine Sekunde auf. Ich habe den richtigen Nerv getroffen.
Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. So ist es gut, wir werden den plötzlichen, erzwungenen Abschied in einen langen Abschied verwandeln, in dem wir Daniela ihren Beat auf die letzte große Reise schicken lassen.
Es ist noch viel zu früh, da klingelt es schon, und ich schlüpfe nur in eine schwarze Jogginghose, streife mir ein T-Shirt über und gehe nach unten. Wenn das wieder nur irgendein indischer Pizzazettelverteiler ist, der unseren Briefkasten nicht gefunden hat, bin ich fest entschlossen, Indien durch eine sofortige Handlung davor zu bewahren, China in zwölf Jahren als bevölkerungstärkstes Land zu überholen.
Aber da steht kein schmächtiger Schwarzhaariger, sondern eine zierliche Blonde, Daniela ist gekommen.
Ihr Mantel ist vom Regen ganz durchweicht, ihre Haare sind klitschnass, und in der Hand hält sie einen kleinen, etwas verschossenen Lederkoffer.
»Ich wollte die Sachen für Beat bringen.«
»Kommen Sie herein, Sie sind ja ganz nass«, sage ich und bugsiere Daniela in mein Büro. Dort nehme ich ihr den Mantel ab und hänge ihn nebenan auf den Kleiderständer, den ich vor die Heizung schiebe.
Aus einem Regal greife ich ein Handtuch und bringe es Daniela: »Trocknen Sie sich erst mal die Haare, Sie werden sonst noch krank.«
Dann gehe ich Kaffee machen.
Als ich wieder ins Büro komme, hat sich Daniela aus dem Handtuch eine Art Turban gebunden. Meine Frau macht das auch so, ich werde nie begreifen, wie das hält. Vielleicht stecken sich die Frauen das Handtuch mit Nadeln am Kopf fest, viel kaputtgehen kann da ja nicht, Handtücher sind ja robust.
So sitzen wir da und keiner sagt etwas. Bevor die Stille aber unerträglich wird, sage ich: »Na?«
Daniela zuckt kurz zusammen, sie war mit ihren Gedanken offenbar ganz woanders, obwohl sie mich die ganze Zeit angesehen hat. Ich bilde mir auf so was aber schon lange nichts mehr ein, so viel gebe ich nicht mehr her, als dass sich Frauen mit Blicken an mir festsaugen.
Sie nimmt den Koffer, der neben ihr auf dem Boden gestanden hat, und fragt: »Wollen Sie da mal einen Blick hineinwerfen? Ich weiß nicht, ob ich alles habe. Mir ist so, als hätte ich irgendwas vergessen.«
Ich nehme den Koffer, den die junge Frau für ihren Mann gepackt hat. Diese Sachen sollen ihn also auf der letzten Reise begleiten.
Ich öffne ihn aber nicht, habe ihn auf meinen Knien stehen und überlege, wie es weitergehen soll. Soll ich nun nachschauen, die Sachen kommentieren, oder was soll ich tun?
Besser ist es, beschließe ich, wenn wir das gemeinsam zu Beat bringen, aber ich möchte, dass Daniela zuerst Kaffee trinkt und wenigstens ein paar Kekse isst. Sie macht mir nämlich nicht den Eindruck, als habe sie schon gefrühstückt.
Wenig später sitzen wir vor dampfendem Kaffee, und Daniela kaut brav an einer Puddingschnecke. Die ist zwar von gestern, aber das merkt sie nicht, wiewohl Antonia nachher sicher merken wird, dass da eine Kalorienbombe aus ihrem Arsenal fehlt. Ich hätte Daniela auch trockenes Heu geben können, sie weiß gar nicht, was sie da isst, sie funktioniert wie ein Roboter.
Unvermittelt sagt sie: »Räto hat angerufen.«
»Wer oder was ist ein Räto?«, frage ich, und sie lächelt kurz. »Räto ist mein Schwiegervater.«
»Und zu dem haben Sie kein gutes Verhältnis?«
»Überhaupt keins.«
»Das ist wenig.«
»Pfft, der kann mir gestohlen bleiben.«
»Warum sind Sie sich nicht grün?«
»Ach, das ist eine lange Geschichte«, sagt Daniela, nimmt einen Schluck Kaffee und erzählt dann: »Beat hatte noch einen Bruder, der ist zwei Jahre nach ihm geboren worden und war von Geburt an schwerstbehindert. Er wurde mit offenem Kopf geboren. Wie das aber so ist, bekam er die ganze Aufmerksamkeit der Eltern, die sich praktisch rund um die Uhr um ihn kümmern mussten. Man hatte ihnen gesagt, er würde wohl kaum älter als fünf Jahre werden, so schwer war die Behinderung. Da waren eigentlich alle Organe irgendwie in Mitleidenschaft gezogen. Aber die Eltern schafften es, den behinderten Bruder so gut zu pflegen, dass er nicht starb. Vor drei Jahren, da war der Bruder 25 Jahre alt, versagten die Nieren dann ihren Dienst. Beats Vater hat von Beat verlangt, dass er seinem Bruder eine Niere spendet. Beat wollte zunächst nicht, aber der Alte gab keine Ruhe, und der Druck auf Beat wurde immer größer. Schließlich hat er sich doch bereit erklärt. Beat wollte das nicht, weil der Bruder trotz der Nierenspende nicht mehr sehr lange überlebt hätte. Bauchspeicheldrüse, Magen, Leber, alles versagte allmählich seinen Dienst. Die ganzen Organe waren überhaupt nicht richtig ausgebildet, es ist ein Wunder, dass der Bruder überhaupt so lange gelebt hat. Beat musste dann vor einer Ethikkommission seinen Entschluss zur Organspende begründen. Ja, und die Damen und Herren haben der Lebendspende nicht zugestimmt. Die Bereitschaft dazu sei unter Druck zustande gekommen, und der Spender sei nicht frei von Zweifeln. Beats Vater gab ihm natürlich die Schuld daran, und über den Streit ist der Bruder dann verstorben. Auch daran trug natürlich Beat die Schuld, ist ja klar. Sie können sich vorstellen, dass der Vater von da an mit Beat nichts mehr zu tun haben wollte. Ganz aus war es, als dann kurz darauf auch noch Beats Mutter verstarb. Ein Schicksalsschlag nach dem anderen.«
Das ist heftig. Ich weiß zu wenig von Beats Vater Räto, um mir ein Urteil erlauben zu können, jedenfalls könnte ich gut verstehen, wenn er verbittert wäre. Für ihn muss die Möglichkeit einer Nierentransplantation so etwas wie ein Strohhalm gewesen sein, nach dem ja sprichwörtlich der Ertrinkende greift. Und wer am Ertrinken ist, wer in einer Notlage, in einer verzweifelten Situation ist, dessen Sinne sind oft getrübt, und der erwartet manchmal von seinen Mitmenschen mehr, als diese leisten können.