»Jedenfalls habe ich von Räto nichts zu erwarten.« Mit diesem Satz reißt mich Daniela aus meinen Gedanken, und sie sagt weiter: »Am Telefon hat er gesagt, dass er die Kosten für die Beerdigung bezahlt, aber dass er nicht kommen wird.«
»Gibt es sonst noch jemanden?«, frage ich, und Daniela schüttelt mit dem Kopf: »Nein, niemanden.«
»Keine Freunde oder Bekannte?«
»Doch natürlich, aber wir sind noch nicht so lange in der Gegend und kennen noch nicht so viele. Sie wissen vielleicht, wie das ist, wenn man heiratet, da gehen so manche Freundschaften den Bach runter.«
»Wenn die Trauerfeier ist, was denken Sie, wie viele Leute kommen werden?«
»Keine Ahnung, vielleicht zehn oder zwölf.«
Mir fällt der Koffer wieder ein, und ich klopfe auf ihn und schaue Daniela fragend an.
»Ja, wir bringen Beat jetzt seine Sachen.«
Ein paar Momente später stehe ich im Gang nebenan; Daniela ist im Damenwaschraum verschwunden, sie will sich die Haare etwas richten und das Geheimnisvolle tun, was Frauen eben in Damenwaschräumen so zu tun pflegen. Es dauert ein wenig, und ich gehe schon mal links den Gang runter zu den Aufbahrungszellen, lasse aber die große Doppeltür offen und stelle den Koffer dorthin, damit Daniela sehen kann, wohin ich gegangen bin.
Seit gestern hat sich ein bisschen was getan. So nackt unter einem grünen Tuch wollten wir der jungen Witwe ihren verstorbenen Mann nicht nochmals präsentieren. Eine Garnitur weiße Unterwäsche haben wir ihm angezogen und ihn in den schwarzglänzenden Sarg gebettet. Mit Kissen und Decke sieht das jetzt schon ganz anders aus als gestern unten im gekachelten Raum.
Aber so wollte ich es haben. Die Frau soll sehen, wie ihr Mann schrittweise auf den letzten Weg vorbereitet wird.
Wenn dann alles fertig und perfekt ist, dann wird sie – so hoffe ich – loslassen können.
Kein Mensch kann ihr die Trauer nehmen, das will auch keiner. Und erst recht will ihr niemand ihre Erinnerungen nehmen. Wir können auch die Leere in ihrem Herzen nicht füllen, und ich kann den leeren Platz an ihrer Seite nicht besetzen. Damit wird sie leben müssen. Was wir aber tun können, ist, dass wir dieses »Mal-eben-kurz-Weggehen-und-nie-Wiederkommen« beseitigen. Jemanden nach einer Krankheit im Krankenhaus sterben zu sehen, oder zu wissen, dass er dort gestorben ist, das ist eine Sache. Viel schrecklicher aber ist es, wenn jemand mal eben nur weggeht und dann nie wiederkommt.
Aber er ist ja da. Beat liegt hier vor mir, und nun werde ich Daniela an die Hand nehmen müssen, damit sie den Prozess des Abschiednehmens mit mir durchlaufen kann. Diesen Schrecken in ihrem Herzen will ich löschen und durch Ersatzhandlungen auffüllen. Handlungen, die vielleicht auf einen Außenstehenden merkwürdig wirken können, die Daniela aber immer in Erinnerung bleiben werden und die so mithelfen, diese Leere wegzufegen.
Ich höre die Tür und drehe mich um, Daniela kommt und hat den Koffer dabei.
Ihr Schritt ist fester als gestern, und sie nähert sich dem Sarg dieses Mal, ohne zu zögern.
Dann bleibt sie stehen, und ich nehme die Sache in die Hand, ergreife den Koffer und lege ihn am Fußende auf die Decke. Das tue ich bewusst, Daniela soll sehen, dass man da keine Berührungsängste haben muss.
»Kommen Sie, packen Sie mal aus!«, sage ich.
Sie lässt die beiden Schnappschlösser des Koffers aufspringen und klappt den Deckel hoch. Zuoberst liegt eine Hose, ich sehe noch Socken und ein Hemd.
»Ist ja gut, dass wir Unterwäsche dahatten«, sage ich, und Daniela ist etwas erschrocken: »Ach Mensch, stimmt ja, Unterwäsche! Daran habe ich gar nicht gedacht.«
»Er hat ja welche«, erwidere ich und beschließe genau in diesem Moment, Beat jetzt anzuziehen.
Ich stelle den Koffer auf den Boden, nehme die Decke weg und ziehe ihm die Socken an. Das kann man ganz gut alleine machen. Aus den Augenwinkeln beobachte ich Daniela. Nein, sie ist nicht abgestoßen, sie schaut eher neugierig. Dann bückt sie sich, nimmt die Hose aus dem Koffer und reicht sie mir. Sie macht also mit, ein bisschen wenigstens, das ist ja schon mal was.
Ich fange an, die Hose über die Beine zu streifen, auch das geht ganz gut alleine. Man muss an den Knien etwas ruckeln, doch dann kommt der Po, und da ist es immer gut, wenn jemand hilft.
Also schaue ich kurz in Danielas Richtung, und die bemerkt meinen Blick sofort.
»’tschuldigung«, sagt sie, und schon ist sie zur Stelle und hilft mir, den Hosenbund über die Hüften zu ziehen.
Für mich ist das nichts Besonderes, ich weiß, wie sich Leichen anfühlen. Aber wie wird Daniela darauf reagieren? Bis jetzt hat sie nur am Stoff gezogen, jetzt aber müssen wir ihm das Hemd anziehen, und dazu muss man den Verstorbenen anfassen.
Sie soll das aber tun, sie soll im wahrsten Sinne des Wortes begreifen, dass Beat tot ist.
Um einem Verstorbenen ein Hemd anzuziehen, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Um es jetzt so einfach wie möglich zu halten und Daniela zu ersparen, dass wir Beat komplett aufrichten und ihm die Arme nach hinten biegen müssen, entscheide ich mich dafür, das Hemd hinten aufzuschneiden.
»Ich schneide das Hemd jetzt hinten auf, dann können wir es ihm besser anziehen«, erkläre ich, und Daniela nickt mit großen Augen und meint nur: »Das ist in Ordnung, es ist ja nur zum Liegen.«
Ich knöpfe das Hemd vorne also zu, nur die oberen drei Knöpfe lasse ich offen. Dann schneide ich das Hemd hinten der Länge nach bis unter den Kragen auf. Jetzt kann das Hemd von vorne übergestreift werden. »Stecken Sie ihre Hand durch einen Hemdärmel und dann greifen Sie einfach Beats Hand und ziehen den Arm durch den Ärmel.«
Daniela nickt, und wir tun synchron dasselbe, sie links, ich rechts; und immer beobachte ich sie aus den Augenwinkeln, ich will ihr ja auch nicht zu viel zumuten. Doch sie ist tapfer, zögert nicht einmal in dem Moment, als sie Beats kalte Hand berührt.
Drei Sekunden später sind die Arme durch die Hemdärmel gezogen.
Ich erkläre, wie es weitergeht: »Sie nehmen jetzt beide Hände und heben die Arme von Beat ganz hoch, dadurch bekomme ich hier oben am Kragen genug Spielraum, damit ich ihn über den Kopf ziehen kann.«
Sie hebt, ich ziehe, und ganz kurz darauf hat Beat sein Hemd an. Die Seitenteile stopfe ich an den Seiten etwas fest, Daniela knöpft noch zwei Knöpfe zu und zieht das Hemd glatt. Das hatte ich ihr nicht gesagt, das tut sie aus eigenem Antrieb; gut so.
Wir stecken das Hemd noch in die Hose, zupfen noch mal hier und noch mal da, dann lege ich die Decke wieder über den Verstorbenen.
»Sollen wir seine Hände falten?«, frage ich, und Daniela überlegt kurz, dann schüttelt sie den Kopf: »Nö, Beat war nicht fromm.«
Ich lege seine Arme auf die Decke, lege die Hände nur ineinander, und dann stehen wir da und schauen ihn an.
Daniela macht einen sehr zufriedenen Eindruck.
»Wollen wir jetzt die restlichen Sachen aus dem Koffer holen?«, frage ich und bin erstaunt, als sie den Kopf schüttelt.
»Nein«, sagt sie, »kann ich das heute Nachmittag machen?«
Sie hat die Regie übernommen, das ist genau das, was ich erreichen wollte!
Ich ziehe mich auf den Gang zurück und lasse sie mit ihrem Mann allein. Sie steht nur da, schaut ihn an, und sie hat begriffen, dass er tot ist. Sie hat ihm seine Sachen gerichtet, so wie eine Frau es tut, wenn ihr Mann auf eine Reise geht.
Es wird seine letzte Reise sein, und ich glaube, dass Daniela das jetzt klargeworden ist.
Räto, Danielas Schwiegervater, sitzt mir gegenüber. Er möchte wissen, was geplant ist, denn er sieht es als Selbstverständlichkeit an, dass er die Beerdigungskosten für seinen Sohn bezahlt.
Ich sage ihm, dass Daniela und ich noch gar nicht näher über den Ablauf gesprochen haben. Das hat auch keine Eile, denn inzwischen hat mir Daniela zu verstehen gegeben, dass es eine Feuerbestattung werden soll. Sie möchte keine Witwe sein, die über zwanzig Jahre einige Quadratmeter Friedhof pflegen muss. Ein kleines Grab für eine Urne tut es auch, hat sie gesagt.