Es sieht gefährlich aus, wie Daniela da abtransportiert wird. Festgeschnallt auf einer Fahrtrage, einer der Retter hält eine Infusionsflasche hoch, und alle beeilen sich sehr.
»Was ist denn da passiert?«, ruft mir eine Nachbarin neugierig zu.
Eine andere fragt noch etwas blöder: »Ist bei Ihnen was passiert?«
Doch den Vogel schießt ein älterer Mann ab, der da fragt: »Na, ist einer Eurer Patienten doch nicht ganz tot gewesen?«
Er lacht meckernd, schaut sich beifallheischend um, und der eine oder andere grinst breit.
Uns ist nicht nach Lachen zumute.
Wir sind alle fassungslos.
Mit dieser Entwicklung hatte niemand gerechnet, konnte niemand rechnen. Die Signale der vorherigen Tage waren doch eindeutig, und es gab keinerlei Anzeichen, dass sie suizidgefährdet sein könnte. Für mich war sie auf dem besten Weg, die Abschiednahme in einer sehr persönlichen Weise zu vollziehen. Ich hatte mir alles so sorgfältig überlegt und war der festen Überzeugung, genau das Richtige zu tun.
Jetzt mache ich mir Vorwürfe.
»Chef, Sie brauchen sich doch wirklich keine Vorwürfe machen, wer hätte das denn ahnen können?«, versucht Frau Büser mich zu beruhigen.
Aber vielleicht hätte ich Daniela nicht alleine lassen sollen. Doch das tun wir immer, ich empfinde es als unhöflich, bei den Angehörigen wie ein Aufpasser stehen zu bleiben. Vielmehr ist es so, dass sie erst dann richtig Abschied nehmen können, wenn keiner dabeisteht.
Sicher, wir hatten es schon hin und wieder, dass jemand den Anblick dann doch nicht ertragen konnte oder sich in eine so starke emotionale Ausnahmesituation hineinsteigerte, dass wir eingreifen mussten. Wir erinnern uns alle noch an eine Frau, die sich aus lauter Verzweiflung zu ihrem toten Mann in den Sarg gelegt hatte, und wir vergessen auch den Mann nicht, der sich weigerte, die Aufbahrungszelle wieder zu verlassen.
Für solche Fälle haben wir ja die Aufbahrungsräume mit kleinen, unauffälligen Kameras, Gegensprechanlagen und einem Alarmknopf ausgestattet.
»Wenn irgendwas ist, drücken Sie einfach hier auf diesen Knopf«, sagen wir immer und zeigen den Leuten dann die grüne Taste der Gegensprechanlage. »Im Notfall betätigen Sie einfach die rote Taste hier.«
Es kommt selten vor, dass das passiert, aber als Antonia Daniela leblos vorgefunden hat, war es mal wieder so weit.
Zwei Stunden später rufe ich im Krankenhaus an, man will mir aber keine Auskunft geben. Dabei will ich doch nur wissen, wie es Daniela geht.
Ich lasse Sandy noch mal dort anrufen, und Sandy sagt einfach, sie sei die Schwester von Daniela, und bekommt erstaunlicherweise sofort Auskunft: Daniela sei noch nicht wieder zu sich gekommen, aber ihr Zustand sei stabil.
Wenigstens etwas, wir sind alle ein bisschen beruhigt, aber ich mache mir natürlich immer noch Vorwürfe.
Den ganzen Tag über kann ich mich nicht richtig konzentrieren und bin mit den Gedanken bei Daniela. Die junge Frau tut mir so leid. Ich habe ja von Berufs wegen mit dem Tod und mit der Trauer zu tun, da bleibt es natürlich auch nicht aus, dass man über das eigene Ableben nachdenkt. Damit komme ich ganz gut klar, aber wenn ich darüber nachdenke, dass meine Frau sterben könnte oder gar eines der Kinder – nein, daran mag auch ich nicht denken.
Daniela ist erst Ende zwanzig und schon Witwe. Sie und Beat waren in einem Alter, in dem man beginnt, Pläne für die Zukunft zu machen. All diese Pläne sind nun über den Haufen geworfen, nichts davon ist mehr real.
Der Tag geht zu Ende, und im ganzen Haus herrscht eher eine gedrückte Stimmung. Es ist so, wie sich Außenstehende ein Bestattungshaus vorstellen, dabei geht es doch sonst bei uns immer ganz lustig zu.
Am nächsten Tag muss ich mir Gedanken machen, wie es nun weitergeht. Beat liegt mittlerweile in einem anderen Abschiedsraum, denn die Kammer, in der er ursprünglich stand, muss renoviert werden. Das macht Manni mit seinem Schwager Helmut, und auch Carlos Gastro-Poda, der langsamste Handwerker, den ich kenne, will dabei helfen.
Im vorderen Teil muss der Teppichboden raus, er ist hellgrau und nun voller Blut. Es ist erstaunlich, wie viel Blut ein Mensch verlieren kann, ohne zu sterben. Das müsste mal einer meiner kleinen Tochter sagen, die stirbt schon fast, wenn nur ein Tropfen Blut aus einer kleinen Fingerwunde austritt.
Unsere Aufbahrungräume sind im hinteren rechten Teil des Gebäudes neben der Trauerhalle untergebracht. Von der Trauerhalle gibt es zwei Türen, die zum Gang vor den Zellen führen, so können die Angehörigen vor einer Trauerfeier hin und her gehen und Abschied nehmen.
Jeder Aufbahrungsraum ist etwa 2,20 Meter breit und ungefähr doppelt so lang. Die hintere Hälfte hat einen Steinfußboden und kann durch eine herunterfahrbare Trennwand abgeteilt werden. Das muss so sein, denn der hintere Teil kann gekühlt werden, wobei sich immer Kondenswasser niederschlägt. Im vorderen Teil herrschen warme Farben, Teppichboden und bequeme Sitzmöbel vor.
Dort würde ohne die Trennwand alles feucht und klamm, und es wäre dort auch bitterkalt. Natürlich schalten wir die Kühlung vor dem Besuch von Angehörigen ab, zünden Kerzen an und spielen auch manchmal leise Musik über die Lautsprecher ein.
Im hinteren Teil, wo der Sarg steht, können wir wegen der Kälte leider nur künstliche Pflanzen aufstellen, aber die kleinen Lebensbäume sind fast schöner als echte.
Solche Aufbahrungsräume gibt es mittlerweile in vielen Bestattungshäusern, das ist auch notwendig, denn die Abschiednahme auf öffentlichen Friedhöfen kann niemals so intensiv und persönlich sein wie bei uns. Auf einem Friedhof hier in der Nähe ist es sogar so, dass man den Verstorbenen nur durch eine Glasscheibe hindurch anschauen darf. Die Angehörigen nennen die verglasten Zellen abschätzig Aquarium. Und sie haben recht. Viel anders als im zoologischen Schauhaus sieht das nicht aus. Man hat keine Gelegenheit, an den Sarg heranzutreten, den Verstorbenen zu berühren oder ihm ein paar Blümchen oder Abschiedsgeschenke in den Sarg zu legen.
Bei einem Bestatter sieht das dann doch ganz anders aus. Wir versuchen immer herauszufinden, was den Angehörigen guttun würde.
Die einen wollen einen schnellen Abschied, ihr Besuch beim Verstorbenen ist ein schneller Blick, um ihn noch einmal gesehen zu haben, dann ist für sie die Sache erledigt. Andere jedoch wollen mehr, sie möchten Zeit dort verbringen können, sich die Last von der Seele reden, vielleicht noch einmal die kalten Hände streicheln oder dem Verstorbenen einen letzten Kuss geben.
Ja, darf man das denn?
Ja, man darf. Keiner muss, aber jeder kann, wie er mag.
Es ist klar, auf einem öffentlichen Friedhof geht eine individuelle Abschiednahme kaum, da kann man meistens eben nur mal schauen, fertig.
Frau Sauerbrey, an die wir uns hier sehr gut erinnern, kam drei Tage lang täglich und erzählte ihrem Mann wenigstens jeweils zwei Stunden lang irgendwelche Geschichten. Sie trank Kaffee, saß da, schimpfte auch mit ihm, kämmte ihn jeden Tag, und dann am dritten Tag kam sie und sagte, dass sie ihm nun alles mal gesagt habe, was ihr noch auf dem Herzen gelegen hätte: »Nun können Sie den Deckel zumachen!«
Andere Leute kommen und bringen die Enkel mit, manchmal recht kleine Kinder, die dürfen dann ihrem Opa oder ihrer Oma noch einmal ein selbstgemaltes Bild oder ein kleines Briefchen in den Sarg legen, und manchmal hat nach dem Besuch der Angehörigen der Verstorbene auch ein Kuscheltier im Arm oder ein anderes schönes Andenken in den Händen.
Ob der Verstorbene davon etwas hat oder etwas davon mitbekommt, das werden wir selbst alle eines Tages erfahren. Aber eins ist sicher, die Überlebenden, die haben etwas davon. Die gehen von hier mit dem Gefühl weg, etwas getan zu haben, etwas erledigt zu haben, einen Schlusspunkt gesetzt zu haben. Und das ist gut so.
Daniela wollte ich genau auf diesen Weg führen, wollte ihr das plötzliche Wegreißen des geliebten Mannes nehmen und in eine langsame Abschiednahme umwandeln. Mir schien sie genau auf diesem Weg zu sein, und dann versucht sie sich hier das Leben zu nehmen. Unfassbar!