Was soll ich nun tun? Sollen wir die Trauerfeier verschieben? Wird Daniela daran teilnehmen können? Wird Räto, der Schwiegervater, jetzt das Ruder in die Hand nehmen?
Ich kann unmöglich viel länger warten, irgendetwas muss passieren, jemand muss eine Entscheidung fällen.
Die Situation belastet uns alle. In der Kühlkammer liegt Beat und wartet auf seine Verabschiedung, und die beiden einzigen Personen auf dieser Welt, die diese wichtige Arbeit leisten können, stehen dafür nicht zur Verfügung.
Seine Frau Daniela ist im Institut für psychische Gesundheit von Professor Vogelsang, und sein Vater Räto will mit ihm nichts zu tun haben.
Jetzt steht es in den Sternen, wann wir die Trauerfeier für Beat machen können.
Räto ist heute Morgen hier bei uns erschienen und brachte völlig überraschend ein Paar Schuhe für seinen Sohn.
Nur schnell abgeben und schnell wieder verschwinden …
Doch ich lasse ihn nicht gehen, sondern bitte ihn freundlich zu mir ins Büro, lasse mir die Schuhe aushändigen und betrachte sie. Es sind nagelneue und sicherlich nicht billige Herrenschuhe.
»Er muss ja was an den Füßen haben«, sagt Räto, und ich nicke und sage: »Sicher.«
Dann schaue ich Beats Vater in die Augen und schweige einfach. Der Mann ist ja nicht einfach so über Nacht auf die Idee gekommen, seinem toten Sohn ein paar Schuhe zu kaufen. Warum nur Schuhe? Warum kein Anzug? Nein, das ist eine Art Ersatzhandlung, die zeigt, dass er doch ein gewisses Interesse für den Verstorbenen hat.
Mir kommt eine Idee, eine einfache Idee, die es aber wert ist, ausprobiert zu werden: »Kommen Sie, dann schauen wir mal, ob sie ihm passen!«
Ich achte gar nicht darauf, ob Räto etwas sagt oder etwas sagen will, schon bin ich an ihm vorbei und schaue mich auch nicht um, ob er mir folgt. Ich weiß, dass er ganz verdutzt geschaut hat, und ich höre ihn hinter mir schwer atmen, aber ich gehe deshalb nicht langsamer; bloß jetzt den Sog nicht schwächer werden lassen.
Tür auf, Licht an, und während die Trennwand der Kühlung hochfährt und die Kälteanlage etwas klappernd abschaltet, trete ich einfach beiseite, stelle die Schuhe vor Beats Sarg am Fußende auf den Boden und gehe am Sarg vorbei nach hinten, schiebe den Vorhang etwas weg, der die hintere Tür verdeckt, und gehe hinaus. Ich überlege kurz, was ich jetzt machen soll. Vielleicht nehme ich einfach ein Set mit Schminkutensilien und pudere Beat noch einmal. Irgendetwas Unverfängliches, Alltägliches sollte ich tun, damit Räto warten und so bei seinem Sohn sein muss.
So nehme ich die kleine Schminkmappe, öffne die schwere Kühlraumtür, die in der hinteren Aufbahrungsraumwand ist, und bleibe wie angewurzelt stehen: Räto kniet neben dem Sarg seines Sohnes, beide Hände auf der Kante des Sarges, den Kopf auf die Brust herabgesunken, und ich glaube, er weint leise.
Ich gehe zwei Schritte rückwärts, ziehe den Vorhang zu, schließe die schwere Tür und gehe durch den hinteren Gang und eine andere Aufbahrungszelle wieder in die Halle.
Es vergeht eine Viertelstunde, und ich will gerade nach Räto sehen, da kommt er auch schon langsamen Schrittes aus dem Seitentrakt. Ich stehe auf, will den Mann in mein Büro führen und ihm ein heißes Getränk anbieten, es war ziemlich kalt im Aufbahrungsraum.
Doch wie ich Räto entgegengehe, breitet er plötzlich seine Arme aus, ergreift mich, drückt mich an sich und weint mir in den Kragen.
»Danke«, ist alles, was er sagt, dann gewinnt die Contenance Oberhand, und er löst sich von mir, nimmt meine Hand, schüttelt sie mit festem Druck und sagt wieder: »Danke, vielen Dank!«
Eine Stunde lang sitzen wir dann beieinander, und Räto ist gelöst, so wie ich ihn zuvor noch nicht erlebt habe. Der wichtigste Satz, den er sagt, ist: »Ich habe doch nur noch ihn gehabt und jetzt muss ich auch ihn gehen lassen, ohne ihm alles sagen zu können.«
Ich rede mit ihm, und es gelingt mir, ihn dazu zu bringen, zu sagen: »Nun ist Daniela das Einzige, was mir geblieben ist. Ich fahre jetzt sofort zu ihr. Ich glaube, ich habe viel wiedergutzumachen.«
Dass er zu dieser Erkenntnis gekommen ist, darauf brauche ich mir nichts einzubilden. Der Knoten muss irgendwann im Verlaufe des vorherigen Tages geplatzt sein, die Schuhe waren ein Zeichen dafür. Ich habe ihm nur die goldene Brücke gebaut, und jetzt muss er über diese Brücke gehen. Die ersten Schritte hat er jedenfalls gemacht.
Da wir nicht weiterwussten, hat Sandy Beat in der Zwischenzeit einbalsamiert, Räto hatte dazu sein Einverständnis gegeben. Diese Maßnahme wurde dringend wichtiger, denn die Zeit schritt voran, und mit ihr setzen langsam auch Veränderungen am Verstorbenen ein, die dringend aufgehalten werden mussten.
Es wäre sonst auch kaum möglich gewesen, den Termin für die Trauerfeier mit dem Sarg noch länger hinauszuzögern.
Morgen, am Karfreitag, soll sie nun stattfinden. Ein ungewöhnlicher Termin, aber in der privaten Trauerhalle eines Bestatters geht auch das, und großartig kirchlich orientiert ist die Familie auch nicht.
Ganz früh heute Morgen hat Räto seine Schwiegertochter am psychiatrischen Institut abgeholt, und sie sind, so erzählte er mir später, schweigend nebeneinanderher zum Auto gelaufen. Dass es überhaupt so weit kommen konnte, dass Räto und Daniela zusammengekommen sind, das bedurfte allerdings einiger beiderseitiger Überwindung.
Daniela ist nicht irre, sie war auch nicht weggesperrt, und man hatte ihr außer leichten Beruhigungsmitteln auch keine Medikamente verabreicht. Der Aufenthalt im Institut diente der Feststellung, inwieweit sie wieder gefestigt ist, um möglichst ausschließen zu können, dass sie wieder Hand an sich legt.
Gegen elf Uhr sitzen mir beide gegenüber, Daniela schön wie eh und je und Räto sehr gelöst. Wie anders Menschen aussehen, wenn sie lächeln.
Keineswegs macht Daniela einen gestörten Eindruck, sie entschuldigt sich bei uns für die Unannehmlichkeiten, für den Schrecken, den sie uns eingejagt hat, und begründet ihre Handlung so: »Ich wollte ihn einfach nicht alleine gehen lassen. Ihn einfach nur zu verabschieden, das wäre in diesem Moment für mich zu wenig gewesen, ich wollte ihn auf seiner letzten Reise begleiten.«
Vorsichtig erkundige ich mich: »Und dann wollen Sie ihn heute wieder besuchen?«
»Ja unbedingt! Sie brauchen keine Angst zu haben, ich werde nichts dergleichen wieder tun. Die Trauer war da noch so frisch, ich war nicht ganz bei Sinnen. Irgendwie erschien mir das als einziger Ausweg, ich fühlte mich so allein. Räto, verzeih mir, aber vor allem weil ich auch von deiner Seite keine Hilfe zu erwarten hatte, fühlte ich mich besonders allein.«
Räto hebt die Schultern und lässt sie wieder fallen, dann breitet er etwas theatralisch die Arme aus und sagt: »Wir haben ja schon darüber gesprochen, es war halt, wie es war, und jetzt ist es anders. Lass uns das Gewesene vergessen.«
Daniela nickt und erzählt mir, wie ihr Schwiegervater mit einer einzelnen Rose zu ihr gekommen ist. Das sei die Rose der Versöhnung, habe er gesagt, und dann habe er den Finger auf den Mund gelegt, um ihr zu bedeuten, dass sie nichts sagen soll, und hat dann gesagt: »Wir können alle die Uhr nicht mehr zurückdrehen. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir können unser ganzes Leben damit verbringen, dem jeweils anderen die Schuld zu geben. Vermutlich wirst du genau so viele und genau so gute Argumente haben wie ich, aber wäre es nicht klüger, wenn wir jetzt einfach nur noch nach vorne schauen?«
»Und dann bin ich ihm um den Hals gefallen, so habe ich mich gefreut«, strahlt Daniela, und Räto hebt in gespieltem Vorwurf seinen Finger: »Und die Rose hast du abgeknickt.«
Die Zeit ist gekommen, Beat steht wieder im Aufbahrungsraum. Er ist nur für dieses eine Mal nochmals hergerichtet worden und sieht sehr gut aus. Um die Augen herum wirkt er etwas eingefallener, aber das ist nicht dramatisch. Räto und Daniela haben sich an den Händen gefasst wie einst Hänsel und Gretel und folgen mir in den Aufbahrungsraum. An der Tür bleiben beide stehen, schauen sich an, und Daniela legt ihren Kopf an die Schulter ihres Schwiegervaters.