Drei Tage später bringen wir den Sarg mit Frau Weiß zum Krematorium. Am Fußende, ganz unten am Sargboden, liegt ein brauner Umschlag und wird mit eingeäschert. Herrmann hat für seine Familie und Stoffel ein Haus gekauft, und man sieht Stoffel heute noch, wie er seine geliebten Autonummern aufschreibt. Wenn ich ihm begegne, muss ich immer an den Umschlag Nummer 2 denken. Es hätte mich schon interessiert, was seine Mutter für den Fall, dass Herrmann seinen Bruder nicht zu sich nimmt, vorgesehen hatte.
Die Messerdora
Manchmal steht man den Wünschen seiner Kunden etwas hilflos gegenüber. Einmal bestellte eine Frau Bommerlanden für ihren Mann: »Der Kranz muss richtig dick mit Bommerlanden besteckt sein.« Kein Mensch weiß bis heute, wie Bommerlanden aussehen und was Bommerlanden sind. »Na, wenn Sie keine haben, dann nehmen wir Nelken.« Es ist mir auch bislang nicht gelungen, Zerbenholz zu finden. Ob wir nicht auch einen Sarg in Zerbenholz hätten, wollte einmal ein Mann wissen. Er nahm dann Buche, das sehe zwar ganz anders aus, sei aber auch sehr schön.
Diese Kundin steht in Witwenschwarz vor mir, guckt mich mit großen Augen an und fragt: »Können Sie bitte dafür sorgen, dass am Sarg das Lied von der Messerdora gespielt wird?«
Messerdora? Das kenne ich nicht, klingt ein bisschen nach einer Figur aus der Dreigroschenoper, aber ich bin mir sicher, dass da keine Messerdora vorkommt. Jetzt will ich natürlich nicht als Kulturbanause dastehen und frage ganz vorsichtig nach: »Messerdora, ja sicher, und in welcher Version hätten Sie das gerne?«
Ha! Ist das nicht clever von mir? So kriege ich vielleicht noch etwas Input, ohne zugeben zu müssen, dass ich nicht den blassesten Schimmer habe, wer oder was die Messerdora ist.
Sie antwortet: »Mein Mann hat immer geweint, wenn die Messerdora gespielt wurde. Der dicke Tenor, der neulich gestorben ist, der hat das immer gesungen.«
Sie muss Pavarotti meinen, und war der nicht bekannt für seine Interpretation von »Nessun dorma«?
Die unheimliche Besucherin
Wenn man Tag und Nacht dienstbereit ist, dann erwartet man ja auch, dass jemand mit einem Auftrag zu einem kommt, wenn es spätabends noch klopft oder klingelt. Aber manchmal kommt es eben anders.
Heute habe ich einen dicken Kopf und rote Ränder um die Augen – aber ich schwöre: Ich habe gestern nichts getrunken! Wie es dazu gekommen ist?
Losgegangen ist es gestern Abend um kurz vor Mitternacht. Ich war ganz allein im Haus, meine Frau ist mit den Kindern verreist. Ursprünglich wollte ich mir ja eine Flasche Wein aufmachen und bei etwas lauterer Musik den Abend ausklingen lassen.
Ich mache das gerne in unserer Trauerhalle, da haben wir nämlich die beste Beschallungsanlage und die beste Akustik. Es war also so gegen 23.45 Uhr, ich ging mit einer Flasche Rotwein die Treppe hinunter und wollte gerade nach links abbiegen, als es gegen die Haustür hämmerte. Ich habe mir zwar nichts vorzuwerfen, aber es war so laut, dass ich unwillkürlich an Polizei, Steuerfahndung oder einen Gerichtsvollzieher im Kuckuckswahn gedacht habe. Also stellte ich die Weinflasche und das Glas unten neben der Treppe auf eine Holzsäule und ging zur großen Eingangstür. Die hat oben Buntglas, und ihr Hersteller war so freundlich, eines dieser Glasfelder aufklappbar zu machen, so dass man hinausschauen und -sprechen kann, ohne die ganze Tür öffnen zu müssen.
Der Riegel klemmte etwas – wir brauchen ihn nicht oft, denn vom Büro aus sehen wir auf einem Monitor, wer draußen steht. Als ich das Fensterchen endlich aufbekommen hatte, polterte es schon wieder vor der Tür.
»Was ist denn?«, fragte ich, wohl etwas unwirsch.
Draußen stand eine Frau von etwa 30 Jahren mit klitschnassen Haaren – obwohl es gar nicht regnete.
»Bitte lassen Sie mich doch herein, bitte!«, flehte sie mich an, und weil sie kein bisschen aussah wie ein ruppiger Finanzfahnder, öffnete ich die Tür und ließ sie herein. Sie ging mit zwei, drei großen Schritten an mir vorbei bis zur großen Palme und sagte: »Machen Sie schnell zu, machen Sie zu!«
Was denkt ein Bestatter, wenn um diese Zeit jemand kommt? Na klar, er macht sich Hoffnung auf einen Auftrag. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass irgendjemand kommt und einfach klopft oder klingelt, um einen Sterbefall anzumelden. Doch warum um alles in der Welt hat sie nasse Haare?
»Sind alle Türen zu?«, fragte sie mich mit weit aufgerissenen Augen, und ich nickte. »Sind wir hier sicher?« Ich nickte abermals: »Wie in Abrahams Schoß!«
»Kommen Sie«, sagte ich, knipste das Licht im rechten Gang an und deutete auf die Tür eines unserer Beratungszimmer – sie machte jedoch keine Anstalten, ihre Position bei der großen Palme zu verlassen.
»Was ist denn da hinter der Tür?«, wollte sie wissen.
»Ein gemütliches Zimmer, wo wir uns bequem hinsetzen können«, sagte ich und fügte noch hinzu: »Ganz sicher, da kommt keiner rein.« Mit zögernden Schritten folgte sie mir, und ich führte sie in unser Beratungszimmer. Wir haben mehrere solcher Räume, von denen jeder völlig anders eingerichtet ist.
Einer ist in nüchternem Office-Grau gehalten, ein anderes ist eher auf Chefbüro getrimmt, und dieses Zimmer ist mit Holz getäfelt, hat einen dicken Teppichboden und schweres dunkles Mobiliar sowie breite, sehr bequeme Ledersessel. Meine Leute sagen immer »das Herrenzimmer vom Chef« dazu, weil ich mir diese Möbel ausgesucht hatte.
Ich deutete auf einen der Sessel, und die junge Frau nahm Platz.
Ich schloss die Tür, setzte mich ebenfalls und hatte das erste Mal Gelegenheit, mir die Frau näher anzuschauen. Sie sah nicht schlecht aus, fand ich. Ein bisschen wie Sandra Bullock, nur irgendwie ungepflegter. Doch noch während ich das dachte, ging mir durch den Kopf, dass »ungepflegt« nicht der richtige Ausdruck war, eher würde »mitgenommen« passen. Ränder unter den Augen, bebende Lippen, die Finger ständig nervös an den unteren Zipfeln ihrer Bluse nestelnd. Auffallend lange braune Haare und wunderschöne schlanke Hände mit ebenfalls auffallend langen Fingern. Keine Schminke, aber ein leichter Duft. Nein, nicht ungepflegt, sondern gehetzt und mitgenommen.
»Was kann ich denn für Sie tun?«
»Hier kann keiner rein, nicht wahr?«
»Nein, niemand. Was ist denn mit Ihnen?«
Jetzt müsste sie mir sagen, dass irgendjemand gestorben ist, dass sie vollkommen durch den Wind ist und dass wir uns um den Sterbefall kümmern sollen. Das hoffte ich zumindest insgeheim, aber eigentlich wusste ich schon die ganze Zeit, dass es nicht so kommen würde.
»Ich habe solche Angst«, begann sie stockend, »die sind hinter mir her!«
»Wer ist hinter Ihnen her?«
»Die Männchen aus dem Fernseher«, sagte sie, schaute mich mit großen Augen an und nickte bestätigend.
»Eine Verrückte«, schoss es mir durch den Kopf, und ich ertappte mich dabei, wie ich sie musterte, um festzustellen, ob sie vielleicht irgendwo ein langes Messer versteckt haben könnte.
Verrückten soll man ja möglichst nicht widersprechen, und deshalb sagte ich nur langsam nickend: »Ach die.«
»Sie kennen das?«, fragte sie, und in ihrer Stimme schwang Erleichterung mit. Ich nickte und schaute sie auffordernd und ermunternd an. »Kaffee?«, fragte ich, und sie nickte heftig.