Es dauerte drei Minuten, bis der Kaffeeautomat auf Betriebstemperatur war. Wir schwiegen, und als die Maschine nach fünf Minuten endlich zwei Tassen mühselig und laut zischend mit Kaffee befüllt hatte, stellte ich eine davon vor sie auf das Tischchen und eine auf eine Ablage neben meinem Sessel. Aus der Brusttasche zog ich mein Päckchen Zigaretten und hielt es ihr hin. Während sie sich eine Zigarette herauszog, sagte sie: »Das geht heute schon den ganzen Tag so, das ist ein schlimmer Tag. Das hat schon heute Morgen mit der Zeitung angefangen.«
Ich gab ihr Feuer und steckte mir auch eine Zigarette an, während sie gierig an ihrer zog, und ich hatte den Eindruck, als ob sie etwas auftauen würde.
»Warum haben Sie denn nasse Haare? Wollen Sie ein Handtuch oder so etwas?«, fragte ich, doch sie schüttelte den Kopf und sagte: »Das ist kein Wasser, das ist Schutzgel.«
»Ach ja, natürlich«, sagte ich und überlegte insgeheim, ob ich mich für einen Augenblick nach nebenan begeben sollte, um die Männer mit den weißen Kitteln anzurufen. Aber eigentlich war sie ja ganz nett und machte nicht den Eindruck, als wolle sie mir die Kehle durchbeißen.
Nachdem sie ein paarmal am heißen Kaffee genippt hatte, lehnte sie sich zurück, und es schien, als entspannte sie sich noch mehr. Ich holte zwei Aschenbecher und setzte mich wieder. »Los, jetzt erzählen Sie doch mal der Reihe nach!«
»Also gut: Ich bin aufgestanden und habe die Sonntagszeitung reingeholt, und da habe ich es gesehen. Die haben wieder nur Sachen in die Zeitung geschrieben, um mich zu manipulieren. Seit fünfzehn Jahren sind die hinter mir her.«
»Wer ist hinter Ihnen her?«
»Der KGB und die CIA, alles Agenten, überall!«
»Und was machen die so?«
»Die haben die ganze Stadt ausgehöhlt, überall Tunnel gegraben, und bei Nacht kommen sie heraus und holen die Menschen. Die Straßen sind gerade wieder vollkommen leer, alle weggeholt. Morgen früh sind die alle wieder da – nach der Gehirnwäsche. Mit mir können sie das nicht machen, ich habe ja das Schutzgel.«
Ich erfuhr, dass die Frau älter war, als ich angenommen hatte: Sie war schon 38, und die ganze Geschichte hatte vor fünfzehn Jahren begonnen. Seitdem, so berichtete sie mir, werde sie verfolgt, ausspioniert und manipuliert. Über das Trinkwasser habe man Gift in ihre Wohnung eingeschleust, um sie willenlos zu machen, und in den Supermärkten tauschten die Geheimdienste alle Lebensmittel aus, um die Menschen mit Drogen unter Kontrolle zu bekommen. Das Ziel sei es, alle »Sehenden« blind zu machen für die Wahrheit. Die Welt würde nämlich von Außerirdischen regiert, und die Geheimdienste hätten die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das keiner merkt. Allerdings funktioniere der Plan der Geheimdienste nicht bei allen Menschen, und deshalb seien die Agenten hinter diesen »Sehenden« her.
Auweia, ist die aber heftig vom Bus gestreift, dachte ich und fragte vorsichtig: »Und weshalb sind Sie zu mir gekommen?«
»Bei Ihnen war noch Licht, und Ihr Haus hat dicke Mauern, da kommen die Strahlen nicht durch.«
Das leuchtete ein. Sie sprach weiter: Schon über 40-mal sei sie in die Psychiatrie eingeliefert worden und müsse eigentlich permanent schwere Medikamente nehmen, das tue sie aber nicht, weil dann die Stimmen in ihrem Kopf weggingen. Sie hört einundzwanzig verschiedene Stimmen, die ihr Befehle geben, und nur eine Stimme davon sagt ihr die Wahrheit und wie das wirkliche Leben ist. Wenn sie die Tabletten nimmt, verstumme auch diese Stimme, und sie sei »denen« ausgeliefert.
»Ist es Ihnen nicht schon mal komisch vorgekommen, dass wir jahrhundertelang nichts hatten, keine Technik, gar nichts, und wie lange wir gebraucht haben, um von der Erfindung des Rades über den Bau der ersten mechanischen Uhren bis hin zur ersten Dampfmaschine zu kommen? Und dann hatten wir auf einmal den Transistor, die Taschenrechner, die Raumfahrt, die Computer, alles, einfach alles.«
»Und das kommt alles von denen?«, fragte ich, und sie nickte heftig: »Genau, ich sehe, Sie verstehen mich!«
Ganz offensichtlich hatte ich es mit einer schwer psychisch gestörten Frau zu tun, die jemanden gesucht und gefunden hatte, um ihre Geschichte zu erzählen. Unsere Tante Hedwig hatte auch im festen Glauben gelebt, ihr Gartennachbar sei in Wirklichkeit Adolf Hitler, und nur sie merke das. Aber Tante Hedwig war im Krieg auch zu lange im Bunker gewesen, und jeder wusste, dass die einen Schatten hatte; vor allem ist sie nie nachts mit einem »Schutzgel« in den Haaren durch die Straßen gelaufen …
Was macht man in so einer Situation? Würde die Frau wieder gehen, oder würde ich jemanden anrufen müssen? Und wo ruft man da an? Die Polizei, die Feuerwehr? Die Frau tat mir nichts, und es brannte ja auch nicht …
Am besten würde es sein, sie dazu zu bewegen, einfach wieder nach Hause zu gehen.
»Wo wohnen Sie denn?«
»Dort hinten, Nummer 29 am Ende der Straße.«
»Wohnen Sie da allein?«
»Nein, wo denken Sie hin, da wohnt auch mein Mann.«
Aha, einen Mann hatte sie auch.
Das beruhigte mich ungemein, jetzt musste ich nämlich nur noch herausbekommen, wie sie heißt oder wie ihre Telefonnummer ist, und dann könnte ich den anrufen, damit er sie abholt.
»Der ist aber gehirngewaschen! Mit dem gehe ich nicht mit, der bringt mich nur wieder weg.«
»Es wäre doch aber besser, wenn Sie jetzt wieder nach Hause gingen. Sie können doch nicht die ganze Nacht hierbleiben.«
»Nur ein bisschen noch, ja?«
»Und dann?«
»Nach eins ist die Gefahr vorbei.«
Ich sah auf die Uhr – und obwohl es mir vorkam, als seien Stunden vergangen, seit die Frau in mein Haus gekommen war, sah ich, dass sie in Wirklichkeit erst eine knappe Stunde hier war. Bis eins waren es noch mehr als 30 Minuten. »Und dann, nach eins, was machen wir dann?«
»Dann bringen Sie mich nach Hause und passen auf, dass die mich nicht in die Kanalisation ziehen, ja?«
»Das kann ich machen«, sagte ich und nickte.
Sie nahm sich noch eine Zigarette aus der Packung, ich gab ihr wieder Feuer, und sie paffte, nun wirklich sehr entspannt, vor sich hin. Einzig an den nervösen Bewegungen ihrer Hände sah man, dass etwas nicht stimmte mit dieser Frau.
»Das Schlimmste für mich ist, dass mir keiner glaubt. Was meinen Sie, wie viele Leute ich schon kontaktiert habe. Sie sind einer der wenigen, die mir glauben.«
Sie berichtete von ihren Erlebnissen mit der Psychiatrie. Wie sie mit Gurten gefesselt abgeführt und dann ruhiggespritzt worden war. Die Therapeuten gehörten ihrer Meinung nach zu »denen«, und ich dachte mir, dass ihr wohl niemand wirklich helfen könnte, solange sie das glaubte.
Noch eine Stunde lang erzählte sie, und ich hatte den Eindruck, dass ihr das guttat. Dann mahnte ich zum Aufbruch, und sie nickte nur. Ich wollte sie nicht alleine lassen, weshalb ich mir keine Jacke von oben holte, sondern eine unserer Dienstjacken von der Garderobe im Flur nahm. Sie war mir etwas zu groß, aber es war ja späte Nacht, kurz vor zwei.
Vor dem Haus hängte sich die Frau einfach bei mir ein, und ich hatte den Eindruck, dass sie fröhlich war; das Gehetzte war völlig von ihr gewichen. Ich sagte zu ihr: »Kommen Sie, wir gehen da drüben, da gibt es keine Kanaldeckel.« Sie strahlte mich an.
Bis zur Hausnummer 29 war es nicht besonders weit, etwa zehn Minuten. Es war ein Mietshaus mit vier Klingeln. »Wo muss ich da klingeln?«, fragte ich: »Oder haben Sie einen Schlüssel?«
Sie klingelte, und ich schaute auf den Namen an der Klingel. Den Namen kannte ich, wusste aber im Moment nicht, woher. Wenige Sekunden später ging das Licht im Treppenhaus an, und jemand kam herunter. Die Tür ging auf – und jetzt wusste ich auch, woher ich den Namen kannte: Der Mann war ein bekannter Stadtrat und ehemaliger Bürgermeisterkandidat. Mit einem Blick hatte er die Situation erfasst, nahm seine Frau und führte sie ins Haus. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er mir, ihnen zu folgen. In der Wohnung sagte er: »Gehen Sie doch bitte geradeaus durch und nehmen Sie Platz, ich komme gleich.«