Выбрать главу

Etwa fünfzehn Minuten dauerte es, bis er wiederkam: »Sie wird gleich einschlafen. Wenn sie ihre Mittel nimmt, dann geht es. Ich hoffe, sie hat Ihnen keine Umstände gemacht?«

Ich verneinte, und er setzte sich mir gegenüber. Bis um halb vier erzählte er mir von seiner Frau und ihrer Erkrankung – eine leidvolle Geschichte voller Kummer und Aufregung. Sie hatte einmal Medizin studiert, und kurz vor dem Examen war das losgegangen mit den Wahnvorstellungen, nicht schleichend, sondern Knall auf Fall in voller Stärke. Seitdem gebe es nur zwei Zustände, berichtete mir der Mann. Entweder dämmere sie unter Medikamenteneinfluss wie ein Zombie dahin, oder sie lasse die Medikamente weg, dann habe sie einige Tage, an denen sie völlig normal scheint, bis es wieder so ist wie heute Nacht.

»Aber was soll ich machen, ich liebe Katja eben«, sagte der Mann, und in diesem Moment hörte ich zum ersten Mal ihren Namen.

Er tat mir leid.

Schwanenhals

Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann ist das, wenn jemand über einen Toten despektierlich spricht. Das gilt umso mehr, wenn dieser Jemand in einem Bestattungshaus beschäftigt ist. Würde da einer meiner Angestellten über einen Verstorbenen scherzen, bekäme er es mit mir zu tun. Jeder hat es verdient, dass wir uns seiner mit Würde und Achtung annehmen. Deshalb erntete Fahrer Manni auch ein Stirnrunzeln von mir, als er eine Verstorbene als Giraffe bezeichnete. Aber er hatte recht.

Chef, das ist ’ne Giraffe.«

Das sagt Manni und meint es wirklich nicht despektierlich. Die Verstorbene hat wirklich einen ausgesprochen langen Hals, der darüber hinaus auch noch recht dünn ist. Ich glaube, man nennt das auch Schwanenhals. Ich weiß nicht, was sie zu Lebzeiten getragen hat, um das möglicherweise zu kaschieren, aber die Angehörigen haben uns ein etwas weiter ausgeschnittenes Nachthemd mitgebracht, und ich muss Manni zustimmen, das sieht unmöglich aus.

Also ruft Sandy bei den Angehörigen an und erklärt vorsichtig die Situation, da muss man feinfühlig sein, schnell wird da auch was falsch verstanden.

Ja, die habe immer Rollkragenpulis und Schals oder Tücher getragen, sagt der Witwer.

Wir sollen halt irgendwas nehmen, Hauptsache sie sieht gut aus.

»Ich habe bestimmt zehn Jahre nicht an der Nähmaschine gesessen«, brubbelt Frau Büser vor sich hin, Sandy ist sofort stiften gegangen, Nadel und Faden sind Fremdwörter für sie, und Antonia winkt nur ab, sie hasst Nähen. Dabei kam die Idee von unserem Dickerchen, Antonia hatte nämlich vorgeschlagen, einfach von einem preiswerten Totenhemd den Spitzenkragen mit den Rüschen abzutrennen und noch oben an den Rüschenkragen eines anderen Talars sozusagen als Verlängerung anzunähen.

Bis Frau Büser den Faden in die Nähmaschine eingespannt hat, vergeht fast eine Viertelstunde, und dann sitzt sie verwirrt vor den vielen Schaltern und fragt nach der Bedienungsanleitung.

Antonia legt ihr Schinken-Käse-Croissant aus der Hand, leckt sich die Finger ab, wischt sie an der Jeans trocken und übernimmt kurzerhand das Kommando:

»Das kann man ja nicht mit ansehen!«

Und dann geschieht etwas, was uns andere mit offenem Mund dastehen lässt, ruckzuck hat Antonia die Stoffstücke in die Maschine gespannt, drückt hier, klemmt da, tritt auf das Pedal und das Maschinchen rattert, und nur wenige Sekunden später zückt Antonia die Schere, schneidet den Faden ab und sagt: »Bitte schön! Ich hasse zwar Nähen, aber das heißt ja nicht, dass ich das nicht kann.«

Tatsächlich, mit den zusätzlichen Rüschen und dem neuen Totenhemd sieht die Frau mit dem langen Hals eigentlich ganz normal aus.

Und endlich weiß ich auch, wofür ich vor Jahren mal diese Nähmaschine gekauft habe, als sie beim Discounter im Angebot war.

Die Brücke

Eine alte Frau von über 80 Jahren, ein alter Mann von fast 90 … Das sind Sterbefälle, die wickelt man ab, gibt sich redlich Mühe, den Angehörigen alles recht zu machen, und hat dabei meistens leichtes Spiel. Sie nehmen das und wollen das, was alle nehmen und alle wollen. So wie man es kennt, bloß nichts Neues, nichts anderes. Solche Sterbefälle bleiben einem selten lange in Erinnerung. Die Hinterbliebenen haben meist auch nicht viel zu erzählen, der Mensch war alt, seine Zeit war gekommen. Ganz anders ist das immer, wenn jemand durch einen Unfall aus dem Leben gerissen wird, und besonders schlimm ist das natürlich, wenn dieser Mensch auch noch jung war. Doch noch ganz anders ist es, wenn sich jemand selbst das Leben nimmt.

Manni kommt an meiner offenen Bürotür vorbei, ich sehe, dass er sich im Laufen seine Krawatte anzieht, und weiß, dass er sich jetzt im Büro die letzten Instruktionen für einen bevorstehenden Einsatz holt. Auch Sandy hat sich in Schale geschmissen, im Grunde trägt sie dasselbe wie Manni, nur statt der Krawatte hat sie ein schwarzes Bäffchen an.

Sie kommt zu mir ins Büro und sagt nur diese zwei Worte, die uns immer einen Schauer über den Rücken jagen: »Die Talbrücke.«

Bei der Brücke handelt es sich um eine Autobahnbrücke, die sich an der höchsten Stelle weit mehr als 50 Meter über den Grund spannt und die immer wieder Menschen anzieht, die sich das Leben nehmen wollen. Selbst eine Erhöhung des Geländers vor einigen Jahren hat nur wenig gebracht, etwa drei- bis fünfmal im Jahr muss irgendein Bestatter in die kleine Ortschaft unterhalb der Brücke, um einen Körper dort aufzulesen.

Es gibt sogar einen Bestatter in dieser Ortschaft, aber der weigert sich seit über vierzig Jahren, diese Opfer zu bergen, und so fällt diese traurige Arbeit neben den Rettungskräften immer dem Bestatter anheim, der gerade turnusmäßig Polizeidienst hat. Uns erwischt es etwa alle zwei Jahre, meistens haben wir Glück …

… heute aber nicht.

Ich will es dem geneigten Leser ersparen, näher darauf einzugehen, was unsere Leute an solchen Einsatzorten erwartet. Jedenfalls hat es mit der friedlich eingeschlafenen Großmutter, die mit einem Lächeln auf den Lippen ihrem Schöpfer gegenübertritt, nicht das Geringste zu tun.

Nach solchen Einsätzen kommt es immer mal wieder vor, dass selbst hartgesottene Bestattungshelfer einen freien Tag benötigen, und ich habe auch schon von Kollegen gehört, dass Männer wortlos ihre Sachen packten und nie wiederkamen.

Als Sandy und Manni gut zweieinhalb Stunden später zurückkommen, sind sie einsilbig und tun beide so, als wären sie ganze Kerle. Das gehört wohl dazu, man will wenigstens nach außen hin nicht schwächlich erscheinen, und manchmal retten sich die Bestattungshelfer auch in Scherze und ein Vokabular, das Angehörige besser nicht zu Ohren kommen sollte.

Ich will nicht sagen, dass meine Leute da ganz anders sind, aber zumindest habe ich so ein Verhalten in meinem Stall noch nicht beobachtet. Allerdings brauchen die Erlebnisse halt doch irgendwo ein Ventil …

Manni legt mir den Ausweis des Verstorbenen auf den Tisch, ich muss schlucken, es ist ein junger Mann, geboren 1990. Sandy tippt auf das Foto und sagt: »So sieht der aber nicht mehr aus.« Dann schauen sich Manni und Sandy an, ich mache die Schreibtischschublade auf, schiebe jedem einen Fünfziger über den Tisch, und wir wechseln kein weiteres Wort darüber.

Manni ist das Geld wichtiger als Sandy, er will seinem Sohn ein Fahrrad kaufen, Sandy schiebt mir das Geld wieder rüber, bedankt sich und meint, ich solle es bis Freitag aufheben, dann wolle sie mit Freunden nach Holland, Pilze kaufen. (Ich bin ja so doof. Man glaube mir bitte, dass ich ernsthaft annahm, das blöde Teufelsweib kaufe wirklich Champignons oder so was …)

»Wo ist der Verstorbene jetzt?«, will ich wissen, Manni sagt: »Unten bei Huber, die Freigabe können wir heute wohl noch holen, die [männlichen Kühe] sagen, der hätte einen Abschiedsbrief hinterlassen, und ein Brummifahrer hat gesehen, dass der ohne fremde Hilfe den Abgang gemacht hat.«