Als Manni sieht, wie ich ihn über meine Brille hinweg ansehe, verbessert er sich und sagt: »… wie der Mann in die Tiefe gesprungen ist.«
Jetzt können wir warten, ob sich jemand von den Angehörigen bei uns meldet oder ob die einen anderen Bestatter beauftragen, der dann den Verstorbenen bei uns wieder abholt. Ich jedenfalls rufe jetzt nicht bei den Angehörigen an, es kann nämlich durchaus sein, dass sich die Behörden, wie schon einmal, sehr üppig Zeit lassen und viele Stunden vergehen, bis da jemand bei der Familie vorbeigeht, um denen zu sagen, was passiert ist.
Ich erinnere mich da an einen Fall, bei dem ich nach fast vier Stunden wegen einer dringenden Frage bei einer Familie anrief und sofort merkte, dass die noch gar nicht Bescheid wussten. Glücklicherweise hatte ich mich nur mit meinem Nachnamen und nicht mit der Firmenbezeichnung gemeldet. Damals tat ich so, als hätte ich mich geirrt, und habe dann viel später nochmals angerufen.
Einer jungen, vielleicht auch etwas unerfahrenen Kollegin ist es aber passiert, dass sie im Auftrag der Polizei einen Verstorbenen abholen musste und man ihr sagte, dass man jetzt sogleich zu der Familie fahre und es wegen der Umstände am besten wäre, wenn sie kurz darauf direkt zu denen hinfahre. Das hat sie dann auch gemacht und stand dann da, mit ihrem Beratungskoffer bei der Mutter der Familie vor der Tür und stellte sich als Bestatterin vor, die wegen der Beerdigung ihres Mannes und Vaters der Familie hergekommen sei. Leider wusste die Frau noch gar nicht, dass sie Witwe war, und es ergab sich eine äußerst peinliche Situation.
Jetzt ist es natürlich nicht üblich oder die Regel, dass die Bestatter sich sofort mit den Angehörigen einer »Polizeileiche« in Verbindung setzen. Selbstverständlich wartet man normalerweise darauf, dass sich die Familie nach einigen Stunden von selbst meldet. Aber manchmal sind die Beamten, die die Todesnachricht überbringen, sagen wir es mal vorsichtig, etwas überfordert. Man darf nicht vergessen, dass sie oft kurz zuvor noch die teils dramatischen Bilder an der Unfallstelle sehen mussten und nun vor Menschen stehen, die mit nichts Bösem rechnen. Die Situation ist für alle nicht sehr einfach. Ja, und da kann es eben vorkommen, dass die einen falschen Bestatter nennen oder vergessen, den Bestatter zu nennen, oder sonst was schiefläuft. Wir haben dann einen Verstorbenen in der Kühlung, und die Angehörigen haben keinen blassen Schimmer, wo der ist.
Wenn sich also so überhaupt gar keiner bei uns meldet, dann müssen wir die Leute irgendwann mal anrufen und fragen, was denn jetzt sei.
In diesem Fall hier habe ich aber überhaupt keine Lust, bei den Leuten anzurufen. Ich hoffe einfach nur, dass die sich bei uns melden, das ist für mich wesentlich einfacher.
Jens heißt der junge Mann, der von der Brücke gesprungen ist, und seine Eltern heißen Dieter und Carola. Wir brauchten gar nicht bei ihnen anrufen, sie kommen gegen Abend von selbst vorbei, bringen eine Mappe voller Dokumente mit und sitzen einfach nur fassungslos da.
Muss ich sagen, dass Dieter und Carola unisono berichten, es gäbe auch nicht den geringsten Anlass für Jens’ Todessprung?
»Wir sind doch eine ganz normale Familie, so was hat es bei uns noch nie gegeben«, sagt Vater Dieter, und Mutter Carola schüttelt nur immer wieder den Kopf, wischt sich ihre Tränen ab und beteuert: »Wir haben doch alles für ihn getan.«
Einmal mehr zeigt sich, dass man niemanden so wirklich kennt, niemanden, manchmal nicht mal sich selbst …
Dieter und Carola Eisner sind leer. Welche Eltern machen sich schon Gedanken darüber, was mal sein wird, wenn sie eines ihrer Kinder beerdigen müssen? Es gibt genügend ältere Menschen, die sich keine Gedanken über ihr Ableben machen, und sie hinterlassen oft Angehörige, die hilflos beim Bestatter sitzen und noch nicht einmal wissen, ob der Verstorbene verbrannt werden wollte oder nicht.
Bei Älteren denke ich dann manchmal, dass die sich ja nun wirklich schon mal mit dem Thema hätten beschäftigen können, schließlich sehen sie, das sich um sie herum der Bekannten- und Verwandtenkreis immer mehr ausdünnt.
Zunächst einmal kann ich den Eisners nur helfen, indem ich sie durch die Vorbereitungen der Trauerfeier leite und sie berate. Ich frage also nach der Bestattungsart, und Frau Eisner und Herr Eisner antworten gleichzeitig, sie sagt: »Jens soll verbrannt werden«, und er sagt: »Auf keinen Fall einäschern.«
Das Ehepaar schaut sich an, er fasst ihre Hand, sie zuckt mit den Achseln.
Ich versuche zu beraten, weise auf die Laufzeiten der Gräber und die Ruhezeiten hin, erkläre den Ablauf der Trauerfeier und zeige die Unterschiede zwischen einer Erd- und einer Feuerbestattung auf. Vielleicht ergibt sich daraus eine Entscheidungshilfe für die Eisners.
Sie sind immer noch unschlüssig, diskutieren miteinander, und jeder von ihnen erinnert sich daran, dass ihr Sohn bei irgendwelchen Gelegenheiten mal das eine, mal das andere gesagt haben soll.
»Was für ein Grab soll es denn sein?«, erkundige ich mich.
Herr Eisner sagt: »So ein großes, für die ganze Familie.«
Ich rechne ihnen vor, was so ein Familiengrab kostet, weise auf ihr junges Alter hin und zeige ihnen auf, dass sie dreißig Jahre oder länger ein großes Familiengrab bezahlen und pflegen müssten, obwohl da nur ein Verstorbener bestattet wäre.
»Das wäre ja auch Quatsch, oder was meinst du«, fragt Herr Eisner seine Frau, doch die zuckt wieder nur mit den Achseln und schüttelt den Kopf.
»Wer soll denn noch alles in das Grab?«, frage ich nochmals nach, und Herr Eisner sagt: »Na, der Opa, also der Vater meiner Frau. Die Oma ist ja schon vor zehn Jahren gestorben, und ihre Urne ist in so einem kleinen Minigrab, so was wollen wir auf keinen Fall.«
»Wenn das so ist, dann könnte man doch ein Familiengrab nehmen. Ich wusste ja nicht, dass es da noch Eltern gibt. Also würde man jetzt den Jens dort beisetzen, dann den Großvater, wenn man mal von der normalerweise zu erwartenden Reihenfolge ausgeht, und wenn Sie das so wollen, können wir in ein paar Jahren auch die Urne der Oma noch dort mit hineingeben.«
Frau Eisner fasst sich etwas, nickt heftig und sagt: »Das wäre schön, so habe ich mir das eigentlich immer gewünscht.«
»Ja, dann …«, sagt Herr Eisner, bricht ab und schaut seine Frau an, während er ihre Hände hält. Sie sagt mit fragendem Ton: »Kevin?«, und er nickt. Dann wendet er sich an mich: »Es ist nämlich so, dass wir vor dreiundzwanzig Jahren schon einmal ein Kind hatten. Kevin ist mit vier Monaten gestorben, das Grab ist auch noch da.«
»Hm, dreiundzwanzig Jahre ist aber an der Grenze, normalerweise sind Kindergräber da schon abgelaufen.«
»Das wissen wir. Das ganze Feld ist schon vor ein paar Jahren abgelaufen, aber es sind da noch ein paar Gräber am Rand, die laufen noch bis nächstes Jahr, und dann wird das ganze Feld plattgemacht. Offiziell sind die anderen Gräber schon abgelaufen, aber wir können das Grab noch pflegen, bis es dann so weit ist. Meine Frau würde das Grab am liebsten gar nicht hergeben, aber da die Ruhezeit für Kinder so kurz ist, sagen die von der Verwaltung, dass da jetzt alles vorbei ist.«
»Ich bezweifle auch, dass da noch wirklich viel in der Erde ist. Ob man da überhaupt an eine Umbettung denken sollte … Man müsste mal mit der Verwaltung sprechen. Was aber auf jeden Fall geht und machbar ist, wir können dann entweder auf den Grabstein am neuen Familiengrab Kevin mit aufführen oder noch einen kleineren Gedenkstein auf das Grab legen.«
Frau Eisner macht große Augen, tippt mit dem Finger auf meinen Notizblock und sagt: »Schreiben Sie das bitte so auf! Ich will nicht, dass da was ausgegraben wird, aber wenn wir schon ein Grab für die ganze Familie bekommen, dann soll der Kevin wenigstens mit auf dem Stein stehen.«