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Normalerweise wird man aber selbst dann als Angehöriger kein Theater machen, wenn zur Trauerfeier auch unliebsame Gäste kommen. Das nimmt man hin, ärgert sich vielleicht darüber, dass »ausgerechnet der die Stirn hatte, da aufzutauchen«, macht aber weiter keinen Wirbel. Besser ist das so.

Am allerbesten ist es aber, wenn die Hinterbliebenen solche Erwartungen vorher ansprechen. Dann kann ein umsichtiger Bestatter schon viel tun, um die Konfliktparteien zu trennen, etwa durch geschickte Plazierung in der Trauerhalle oder das Reservieren von Sitzreihen.

Die Gäste hatten Platz genommen, und die Trauerfeier stand kurz vor dem Beginn, da stand einer der Männer aus dem Kreis der Arbeitskollegen von seinem Platz in der vordersten Reihe der linken Seite auf, knöpfte sich sein Jackett zu, zückte ein kleines weißes Zettelchen und ging zu Herrn Eisner. Dann stellte er sich steif vor diesem auf und sprach kurz mit ihm.

Aha, dachte ich, das wird wohl einer der Kollegen oder eventuell sogar einer der Vorgesetzten sein, der nun anfragt, ob er eine kurze Rede halten darf. Ich wusste ja, dass die Eisners ein gespanntes Verhältnis zur Arbeitsstätte ihres Sohnes hatten, und schaute neugierig hinüber. Was würde Herr Eisner tun?

Nun, ich hatte damit gerechnet, dass Eisner kurz und heftig den Kopf schüttelt, immerhin hatte er von der Stadtverwaltung überhaupt niemanden bei der Trauerfeier sehen wollen, und so konnte ich mir nicht vorstellen, dass er es gerne gesehen hätte, wenn einer von denen auch noch Teil der Trauerzeremonie geworden wäre. Was dann aber geschah, ja, damit hatte selbst ich nicht gerechnet. Herr Eisner stand ebenfalls auf, knöpfte sich in Seelenruhe einen Knopf seiner Anzugjacke zu, und dann, man konnte es kaum sehen, so schnell ging das, zuckte sein rechter Arm vor, und der Arbeitskollege des Verstorbenen bekam einen stumpfen Fausthieb auf die empfindliche Stelle zwischen Brust und Bauch und sackte innerhalb von Sekundenbruchteilen mit verdrehten Augen nach hinten, setzte sich auf den Hosenboden, kullerte dann fast wie in Zeitlupe auf die Seite und blieb kurz vor einem der Kränze regungslos liegen.

Die Trauergäste waren aufgesprungen, kaum einer hatte richtig mitbekommen, was passiert war, und alle tuschelten. Von halblinks hörte ich, da sei einer ohnmächtig geworden, von rechts hieß es, ein Betrunkener sei umgefallen, und von hinten fragte eine ältere Dame: »Ist der jetzt auch tot?«

Ich eilte nach vorne, einer der Friedhofsangestellten kam ebenfalls dazu, und gemeinsam kümmerten wir uns um den »Gefallenen«, der nach ein par Sekunden der Orientierungslosigkeit wieder zu sich kam und stöhnend in die Runde blinzelte. Wir brachten den Mann raus in den Gang bei den Leichenzellen und setzten ihn dort auf einen Stuhl. Währenddessen drang tumultartiges Rufen und Schreien aus der Trauerhalle an mein Ohr, und mein Herz begann wie wild zu klopfen, Schweiß trat auf meine Stirn. Was, um alles in der Welt, war denn da los?

Als ich wieder in die Trauerhalle kam, sah ich folgendes Bild: Herr Eisner hatte sich eine der großen Wachskerzen, die unangezündet am Rand der Halle in Reserve standen, geschnappt und war dabei, diese wie einen Prügel drohend über seinem Haupt zu schwingen und damit die Kollegen und Kolleginnen des Verstorbenen aus der Trauerhalle zu vertreiben: »Verschwindet bloß, heimtückisches Pack, scheinheilige Bande, ihr habt meinen Sohn in den Tod getrieben, ihr Mobber, ihr Menschenverächter, Schweine, Banditen …!«

Frau Eisner weinte, die übrigen Trauergäste tuschelten, aber keiner griff ein, und so lang einem das Ganze im Nachhinein vorkommt, es hat nur ein paar wenige Sekunden gedauert, dann waren die Leute von der Stadtverwaltung aus der Trauerhalle verschwunden. Wortlos, ohne Widerworte, mit eingezogenem Kopf und hastig waren sie hinausgelaufen. Herr Eisner stellte die lange, dünne Kerze neben die Eingangstür, klopfte sich sinnbildlich den Staub von den Händen und nahm, seine schwarze Krawatte richtend, neben seiner Frau Platz und begann diese zu beruhigen.

»Es kann losgehen!«, gab ich dem hinter mir inzwischen aufgetauchten Friedhofsleiter das Kommando, und er drückte auf einen Schalter an der Wand, woraufhin vom Band das erste Lied abgespielt wurde, und Pfarrer Diepenholz, der von alledem vor lauter Vorbereitungsstress nichts mitbekommen hatte, zog in die Feierhalle ein.

Als sei nichts gewesen, ließen die Eisners die Trauerfeier vorübergehen, und anschließend soll weder von anderen noch von ihm das Thema angeschnitten worden sein. Und trotzdem wurde natürlich überall heftig getuschelt und diskutiert.

Tage vergingen, und mir war der Spott der städtischen Friedhofsangestellten sicher. Ob das Ernst-August von Hannover gewesen sei, wollte einer wissen, und ein anderer forderte im Scherz eine Gefahrenzulage, wenn wir wieder so gefährliche Leute mitbringen …

Doch es kam der Tag, an dem die Eisners zu uns kamen, um die letzten Angelegenheiten zu besprechen, und bei dieser Gelegenheit überreichte mir Herr Eisner eine Schachtel mit Pralinen (Antonia, wo sind die eigentlich?), um sich zu entschuldigen. Das sei sonst gar nicht seine Art, er habe noch nie jemanden geschlagen, und trotzdem tue ihm der Vorfall an sich kein bisschen leid, nur dass wir vielleicht Ärger deswegen hätten.

»Was war denn da überhaupt los?«, wollte ich wissen, und dann erzählten die Eisners abwechselnd folgende Geschichte:

»Unser Sohn Jens ist etwas zurückgeblieben gewesen, aber verstehen Sie uns bitte nicht falsch, der war nicht behindert oder eingeschränkt, um Himmels willen. Nein, der war als 18-Jähriger noch so ein 15-Jähriger, nicht von der Intelligenz her, sondern so von seinem kindlichen Wesen. Ein ganz Lieber, wissen Sie, das war der Jens.«

»Zurückgeblieben ist vielleicht auch nicht das richtige Wort, eher könnte man sagen, dass er dem ganzen Rummel, den junge Leute oft so machen, eher skeptisch gegenüberstand und sich lieber mit Büchern beschäftigte und viel mit seinem Fotoapparat in der Natur unterwegs war. Wenn die anderen sich samstags verabredeten, zog er lieber durch den Wald und knipste Spechte und Eichhörnchen. Manchmal haben wir uns sogar Sorgen gemacht und uns gefragt, ob mit ihm was nicht stimmt, aber im Grunde war uns das so lieber. Er hat ja keinem was getan und niemandem geschadet, und ihm hat es ja an und für sich auch nicht geschadet.«

»Auf der Arbeit bei der Stadtverwaltung war er damit aber ein Außenseiter, da heißt es ja jeden Tag ›hoch die Tassen‹ und es gibt ja immer was zu feiern. Mal hat einer Geburtstag, mal wird jemand Vater, und dann wird einer versetzt und am nächsten Tag muss ein Neuer seinen Einstand geben. Die saufen da wie die Löcher, das ist fürchterlich. Auch nach Feierabend gibt es für viele nichts anderes, als noch eben mit den Kollegen auf ein Bier in die Pinte zu gehen.«

»Ja, und da hat Jens nie mitgemacht. Gut, seinen Einstand hat er gegeben, und wenn für einen Geburtstag oder so gesammelt wurde, gab er auch immer was, aber diese Feierei, nee, das war nicht sein Ding. Und so kam es, dass es nicht lange dauerte, bis die anderen anfingen, ihn zu mobben. Was die mit Jens gemacht haben, das war unter aller Kanone! Die haben ihn bei jeder Gelegenheit aufgezogen, haben ihn lächerlich gemacht und ständig über ihn gewitzelt. Das mag sich nicht so schlimm anhören, aber wenn das den ganzen Tag so geht, dann kann einen das schon mürbe machen.«

»Dann haben die angefangen, ihn auch vor den Bürgern lächerlich zu machen. ›Dafür ist Kollege Nichtraucher zuständig‹ oder ›Gehen Sie mal zu Herrn Muttersohn‹ haben die gesagt und sich schimmelig gelacht. Dass die ihm die Luft aus den Autoreifen gelassen haben, das war nur der Auftakt für eine ganze Serie von üblen Streichen. An seinem Bürostuhl haben sie eine Rolle abgemacht, ihm Kaffee mit fauligem Blumenwasser gebracht, und einen Tag haben sie Jens in der Herrentoilette in einer der Kabinen eingesperrt. Drei Stunden war er da drin, und erst dann ist der Hausmeister gekommen und hat ihn befreit.«