»So ist das viele Monate gegangen, und Jens ist daran kaputtgegangen. Sie glauben nicht, wie gerne der zur Arbeit gegangen ist, am Anfang wenigstens, aber dann … Erst wurde er krank, richtig krank, Bauchschmerzen, Magenprobleme, Durchfälle, alles nur psychosomatisch wegen seiner Kollegen. Dann hat er mit dem Personalrat gesprochen, und ein Vorgesetzter hat ein Rundschreiben gemacht. Aber das hat die Sache nur verschlimmert. Schließlich musste Jens sogar zum Psychotherapeuten, so haben die den fertiggemacht. Und wir glauben, dass er uns die wirklich schlimmen Sachen noch gar nicht erzählt hat. Ganze Wochen lang soll die ganze Abteilung ihn vollkommen ignoriert haben, die haben einfach so getan, als sei er Luft. So was kann einen Menschen fertigmachen.«
»Unentwegt hat das Telefon in seinem Zimmer geklingelt, und immer wenn er dranging, wurde schnell aufgelegt. Immer wieder bekam er über das Intranet der Stadtverwaltung Mails, in denen ihm damit gedroht wurde, man würde sein ›Geheimnis‹ verraten. Wir haben keine Ahnung, was das für ein Geheimnis hätte sein sollen, auch Jens wusste das nicht. Aber man kommt ja dann doch ins Grübeln und fängt an zu überlegen, was da gewesen sein könnte, was die anderen da wissen könnten … Aber uns ist nichts eingefallen.«
»Tja, und dann war auf einmal wieder alles in Ordnung, die Kollegen taten so, als würden sie Jens voll integrieren, waren ein paar Tage freundlich und nett zu ihm, nur um ihn dann, als er wieder Vertrauen gefasst hatte, wieder auflaufen zu lassen. Bei einem Ausflug, an dem er extra teilnahm, um seinen guten Willen zu zeigen, ließen sie ihn einfach an einer Autobahnraststätte stehen und lachten sich kaputt. Wir mussten dann 150 Kilometer fahren, um ihn da abzuholen.«
Und noch an viele Beispiele mehr errinnerten sie sich. So ging das wohl die ganze Zeit, und Jens ist daran kaputtgegangen …
Narhalla
Nicht nur zur fünften Jahreszeit sind auch bei uns hin und wieder die Narren los …
Gleich vier Männer kommen am Silvestertag zu mir ins Büro und wollen einen toten Freund beerdigen. Einen von denen kenne ich, er ist vorsitzender Richter oder leitender Präsident, oder wie immer das auch heißen mag, bei den örtlichen Karnevalsveranstaltungen. Jedenfalls sitzt er vorne in der Mitte, mit dem Gesicht zum Publikum, und alle machen, was er sagt.
Doch, doch, die anderen müsste ich doch auch kennen, die seien doch aus seinem Elferrat, meint Herr Pöschl, ebenjener vorsitzende Dompfaff der Karnevalsgesellschaft »Ranzige Ortsfassel«. Na ja, vielleicht würde ich sie kennen, wenn sie ihre dunklen Anzüge und diese Mützen mit den Fasanenfedern anhätten, haben sie aber nicht.
Das wär’ ja jetzt voll dumm gelaufen, dass der Hugo gestorben sei. Gott sei Dank bräuchte man den nicht für den Aufbau und die Bütt’, der wäre ja letztes Jahr schon ausgerechnet in der Kampagne im Krankenhaus gewesen.
»In der Champagne?«, frage ich verwundert. »Zahlt das denn die Kasse?«
»In der Kampagne, K, mit K!«
Da wollte ich auch mal lustig sein, sind doch schließlich Karnevalisten, und ausgerechnet die verstehen meinen geschliffenen Wortwitz nicht. Besonders traurig scheinen die über das Hinweggleiten der Seele ihres Fastnachtsbruders nicht zu sein und kommen relativ schnell zum Kern ihres Anliegens.
»Also wir würden vom Verein aus die ganze Beerdigung und alles bezahlen, wenn die Beerdigung erst nach Aschermittwoch ist«, sagt der Vorsitzende, und einer von seinen Kampfesbrüdern, der aussieht wie Hein Blöd, beeilt sich schnell zu sagen: »Sie müssten den Hugo vielleicht einfach einfrieren.«
»Warum sollen wir denn die Beerdigung nicht nächste Woche machen?«
Diese Frage trägt mir wieder einige unverständliche Blicke ein. Das ginge ja wohl gar nicht! Die ganze Session, also die Kampagne, gehe immer vom 11.11. bis zum Aschermittwoch. Und das Blöde an der Sache sei ja in jedem Jahr, dass direkt nach dem 11.11. die Adventszeit vollkommen überflüssigerweise und absolut störend dazwischenkomme und jede weitere ernsthafte karnevalistische Betätigung vorübergehend zum Erliegen bringe.
Der Gipfel sei ja, dass dann auch noch Weihnachten und Silvester in die Quere kommen, schließlich sei die Zeit ja kurz bemessen, denn unsinnigerweise stehe ja das Osterfest mit der vorangehenden Fastenzeit einer ganzjährigen Belustigung noch viel störender im Wege.
Außer der vereinsinternen Weihnachtsfeier im »Goldenen Schwan« könne man bis Neujahr so gar nichts machen und stehe quasi mit den Hufen scharrend in den Startlöchern, um dann im jeweils neuen Jahr mit Karracho und Tschingderassabum loslegen zu können.
»In diesem Jahr ist aber schon am 8. Februar Schluss, Ostern ist so früh, und je früher Ostern ist, umso früher sind auch Aschermittwoch, Rosenmontag und der Rest der närrischen Tage, die ja alle damit zusammenhängen«, erklärt mir einer der Elferräte.
Ich erkenne das Problem. Die Karnevalsgesellschaft hat in die kurze Session, die so richtig erst jetzt am 1. Januar ins Laufen kommt und nur gut einen Monat dauern kann, alle närrischen Termine gepackt, und der Trauerfall mit allen Vorbereitungen, Versammlung auf dem Friedhof und einer anstandshalber zu gewährenden Trauerzeit würde den Verein vor große Probleme stellen.
Da zahlen die lieber die ganze Beerdigung und erwarten, dass ich den Mann einen Monat lang einfriere. So doof und abwegig ist die Idee gar nicht. In Kanada wird das auch gemacht. Der Frost macht Erdbestattungen in den nördlichen Gebieten im Winter nahezu unmöglich, da hilft dann auch ein Auftauen des Bodens mit Gasbrennern nicht. Man lagert die Verstorbenen ein, und sobald es taut, gibt es eine Beerdigung nach der anderen.
Aber wir sind nicht in Kanada, haben keinen Frost, und nur die gestörte Terminlage eines Karnevalsvereins ist kein ausreichender Grund, dem werten Hugo ein anständiges und zeitnahes Begräbnis zu verweigern.
Das sage ich den Herren auch, und sie schmollen sichtlich. Sie hatten sich das so schön ausgetüftelt, und jetzt mache ich ihnen einen Strich durch die Rechnung.
»Was sagt denn überhaupt die Witwe dazu, der Mann war doch verheiratet, oder?«, erkundige ich mich, und der Vorsitzende Pöschl beeilt sich zu sagen: »Ich bin bevollmächtigt, alles zu regeln, wir haben das alles mit der Hannelore schon geklärt.«
Und Hein Blöd fügt hinzu: »Die Hannelore ist die Frau vom Hugo!«
»Wann?«, frage ich.
»Na heute Morgen, wir waren vorhin bei ihr.«
»Dann rufe ich die Frau jetzt mal an, okay?«
»Das brauchen Sie nicht, wir haben alles besprochen, die ist bestimmt jetzt müde oder ganz in Trauer oder hat jetzt keine Zeit …«
»Ich ruf die jetzt an.«
Während ich den Hörer ans Ohr nehme, schmollen die Herren wieder. Ich muss zugeben, dass sie sehr freundlich und höflich sind, ich vermute mal, die haben sich gestern, als sie die Todesnachricht erhalten haben, zusammengesetzt und das mit dem Einfrieren gemeinsam ausgetüftelt. Dann haben sie es heute Morgen der Witwe beigebracht, und die arme Frau hat ob der männlich-karnevalistischen Übermacht kapituliert. Böse haben sie es nicht gemeint, doch durch meinen Anruf könnte ihr ganzer schöner Plan ins Wanken geraten. Wenn es schlecht läuft, ist die Beerdigung erst nächste Woche, und da hat man eigentlich schon so allerhand an Terminen.
Die Frau meldet sich, ich stelle mich vor, und sie will gleich wissen, wann die Beerdigung ist und wie das denn mit dem Sarg sei, den wolle sie doch selbst aussuchen, und den guten Anzug vom Hugo, den müsse sie doch auch vorbeibringen.
Na, das soll sie dann doch machen, schlage ich vor, und wenn es geht gleich. Ja, das macht sie doch.