Vor hundert Jahren gab es gleich nebenan auch ein Männerkloster, das einen viel größeren Friedhof hat. Aber das Männerkloster steht schon so lange leer, und ich weiß gar nicht, wann wir die letzte Bestattung auf dem größeren Friedhof, wo es eine Männer- und eine Frauenabteilung gibt, gemacht haben.
Eigentlich sind das viele Fragen, die mir da so in den Sinn kommen, und ich beschließe, nachher bei der Suppe mal zu fragen.
Wir sind endlich mit der Karre am Grab angekommen, lassen sie stehen und gehen zum Auto zurück. Flensen wendet den Wagen und schaltet die Scheinwerfer ein, damit wir mehr Licht am Grab haben. Der Sarg, den wir zum Grab tragen, ist fast schwerer als Schwester Klara.
Flensen treibt zur Eile, und ich merke, dass er keine Lust mehr hat und jetzt allmählich wieder nach Hause will.
Mir geht es ebenso, und so beeilen wir uns, den Sargunterkasten in das Grab zu lassen. Jetzt noch Schwester Klara, dann der Deckel.
»Und wie geht das jetzt?«, will Flensen wissen. Ich sage: »Ein Tau um den Oberkörper, eins um die Beine, jeder von uns nimmt zwei Tauenden, Sie oben, ich unten und dann einfach runterlassen.«
»Dann geh ich aber an die Füße«, verlangt Flensen, und ich sehe ein, dass er recht hat, der Oberkörper ist immer schwerer, und ich bin kräftiger gebaut als er.
Ich zähle auf drei, und gleichzeitig heben wir Schwester Klara an den beiden Tauen an und heben sie über die Grube. »Jetzt langsam ablassen«, kommandiere ich, und so machen wir es auch.
Das geht aber gar nicht so einfach, wie wir uns das vorgestellt haben. Mal ist der Kopf zu tief, mal sind es die Beine, aber schließlich schaffen wir es doch.
Flensen zieht schon sein Tau hoch, doch meins lässt sich nicht hochziehen. Die Tücher, die um die Leiche geschlungen sind, haben sich an der Seite gelöst und irgendwie mit dem Tau verheddert.
Sosehr ich auch ziehe, ich bekomme das Seil nicht los.
»Was’n los, Chef?«, will Flensen wissen, und ich ziehe nur noch mal hilflos am Tau.
»Es geht nicht, irgendwas klemmt da«, sage ich.
»Lassen Sie mich mal!«, sagt Flensen und kommt herum, zieht auch ein bisschen am Tau, und tatsächlich, es gibt etwas nach, und wir können es 20 oder 30 Zentimeter herausziehen.
Flensen beugt sich zur Seite, nimmt die Handlampe, die inzwischen nur noch spärlich Licht spendet, und leuchtet in das dunkle Grab.
Schon wieder flucht er: »Ach du Scheiße!«, und weicht einen Schritt zurück.
Da stehen zwei erwachsene Männer in der Halloween-Nacht neben einem frisch ausgehobenen Grab. Eine Szene wie im Mittelalter, nur dass die Lampe, mit der wir ins Grab leuchten, aus schlagfestem Kunststoff ist und kein brennender mit Pech getränkter Lappen an einem Holzprügel … Obwohl, viel mehr Licht als eine mittelalterliche Fackel spendet diese moderne Handlampe auch nicht mehr.
»Ich fasse es nicht!«, staunt Flensen und deutet in das Grab.
Im schwachen Schein der Lampe sehe ich, was passiert ist: das Tau hat das Tuch beiseitegeschoben oder gerissen und Schwester Klaras rechten Arm freigelegt. Mit knochigen, starren Fingern hält sie den Strick fest umklammert.
»Das ist nur ein Reflex«, beruhige ich meinen Mitarbeiter und überlege fieberhaft, ob das wirklich sein kann. Sicher, Tote zeigen oft noch Reflexe, wenn man sie bewegt, und wenn der Arm gebeugt wird, kann es durchaus sein, dass die Hand sich öffnet oder schließt.
»Und was, wenn die nicht tot ist?«, will Flensen wissen.
»Dann hätte sie bestimmt schon was gesagt, das ist nur ein Reflex!«
»Und jetzt?«
»Jetzt muss einer von uns beiden da runter und den Strick aus ihrer Hand lösen. Außerdem muss der Arm wieder in den Sarg, sonst bekommen wir den Deckel nicht drauf«, sage ich.
»Ja klar, und der eine, der da runtermuss, das bin ich oder?«
»Hmmm«, ist alles, was ich dazu sage, und »Scheiße« ist alles, was Flensen zu sagen hat.
Ein paar Minuten später steht Flensen breitbeinig über der Leiche von Schwester Klara, die Füße auf dem Rand des Sarges und versucht, die starren Finger der Toten zu lösen.
»Ziehen Sie mal am Strick!«
Ich ziehe, und siehe da, endlich geht es.
»Verfluchte Kacke«, tönt es aus dem Grab, und ich helfe Flensen heraus. »Chef, an manchen Tagen hasse ich meinen Job!« Ich weiß ganz genau, was er meint, ganz genau.
Den Deckel können wir gut von oben auflegen, und ich schiebe ihn noch mit der Latte genau in die Nut des Unterkastens, da fängt Flensen schon an, das Grab zuzuschaufeln.
Ich helfe ihm. Das geht wesentlich schneller als das Ausheben, viel schneller.
Kaum eine halbe Stunde später ist alles erledigt, und wir klopfen die Erde auf dem neuen Grabhügel noch etwas fest. Dann räumen wir unseren Krempel zusammen.
Gerade ist alles im Auto verstaut, da taucht die ältere Nonne wieder auf. »Ist Ihnen alles gut von der Hand gegangen?«, will sie wissen, und Flensen und ich schauen uns nur an. Ich nicke müde: »Ja, alles wunschgemäß erledigt.«
»Vergelt’s Gott!«, sagt die Klosterfrau und bittet uns, ihr zu folgen.
Ich darf mich etwas säubern, und dann gibt es endlich die langersehnte heiße Suppe.
Eine Kürbisrahmsuppe. Wie passend zu Halloween.
Röschen und Kalli
Wie schnell redet man abfällig über Menschen, die einfach nur anders sind als man selbst. Wie schnell vergisst man, dass jeder das Recht hat, auf seine Weise glücklich zu werden. Herr Rose hat mir da auf sehr berührende Weise gezeigt, dass anders auch schön ist.
Sandy kommt zu mir ins Büro, grinst etwas merkwürdig und meint, da draußen sei ein Kunde, der genau das Richtige für mich sei. Also gehe ich in die Halle und treffe dort auf eine Mischung zwischen Rudi Carrell und Charlys Tante.
Der große, grauhaarige Mann ist bunter angezogen, als man es sich vorstellen kann; besonders seine zweifarbig gestreiften Schuhe fesseln meinen Blick. An den Ohren trägt er wenigstens zehn Zentimeter lange Ohrringe aus Glitzerklunkern. In meinem dunklen Anzug komme ich mir fast deplaziert vor.
»Ach, endlich kommt da jemand«, begrüßt er mich, und dabei hält er mir seine Hand hin, die ich ergreife und schüttele. »Mein Name ist Rose, aber Sie können mich Röschen nennen, mich nennen alle so.«
Daniel Edmund Rose ist 62 Jahre alt und hat den Tod seines Lebenspartners zu beklagen. Der ist gestern im Krankenhaus mit 59 Jahren an den Folgen eines Diabetes verstorben.
»Sie werden mich für einen Paradiesvogel halten, und ich bin genau das, ein Paradiesvogel, und mein Kalli war das auch. Ich will die schönste, bunteste und schrillste Beerdigung der ganzen, weiten Welt.«
Na, machen wir doch!
Röschen bezeichnet sich selbst und seinen verstorbenen Partner als schwul, und als ich das Wort »homosexuell« verwende, sagt er: »Sie können ruhig schwul sagen! Wir haben das immer ausgelebt, und ich will nicht, dass man irgendwas verstecken muss.«
Die Überführung des Verstorbenen werden wir heute noch vornehmen. Morgen früh bringt Röschen die Kleidung, die der Verstorbene tragen soll, und wird mir dann auch sagen, wie der Blumenschmuck aussehen soll. Die Trauerfeier ist bei uns im Haus, und Röschen erwartet rund vierzig bis sechzig Trauergäste.