Kalli soll dann eingeäschert und auf einer Wiese ausgestreut werden. Das geht aber hier auf dem Friedhof nicht, und Röschen schaut mich mit großen, enttäuschten Augen an. »Ich dachte, das sei ganz normal, dass die Asche auf der Wiese vom Friedhof verstreut wird.«
Das glauben viele Leute, aber es ist nicht so. Die Urnen werden zwar anonym, aber an doch bekannten Plätzen beigesetzt. Ich zähle Röschen die ganzen mir bekannten Möglichkeiten auf, angefangen von der Ausstreuung der Asche von einem Heißluftballon über dem Elsass bis hin zur Übergabe der Asche an einen rauschenden Bergbach in der Schweiz. Das gefällt ihm zwar alles, aber das sei ja alles so weit weg.
Ich bespreche mit Röschen eine weitere Variante, und wir kommen überein, dass die Asche später in die Niederlande überstellt wird. Bleibt das Problem, wie wir mit dem Vater des Verstorbenen umgehen. Zu der von Röschen geplanten Trauerfeier wird er wohl kaum kommen, und ich muss einen Weg finden, damit auch er Abschied nehmen kann.
Ich hadere mit mir, ob ich den Vater anrufen soll.
Am selben Tag, etwas später
Unser Anwalt hat meine Ansicht bestätigt. Röschen ist Kallis Erbe und steht in der Erbfolge vor dem Vater. Somit ist er in der Reihe der möglichen Bestattungspflichtigen ebenfalls vor dem Vater und damit auch berechtigt, die Bestattung zu bestellen. Wenn die beauftragte Bestattung nicht grob gegen den guten Geschmack verstößt, kann der Vater nichts dagegen unternehmen.
Mit dieser Auffassung werde ich bei der Stadtverwaltung vorstellig. Dort ist Röschen ja, vertreten durch uns, Auftraggeber für die Einäscherung. Man zieht dort zwar immer die Nase hoch, wenn wir »wie immer« mit so »komischen Sachen« kommen, aber letztlich ist man unserer Auffassung. Röschen kann durchstarten. Mit dieser Botschaft und der Rechtssicherheit im Nacken werde ich nun doch den Vater anrufen.
Am nächsten Tag
Im Verlaufe des heutigen Vormittags treffe ich Kallis Vater. Ursprünglich hat er darauf bestanden, dass wir uns in den Räumen des von ihm beauftragten Bestatters Soundso treffen sollen. Das wäre mir sehr unangenehm gewesen, und Herr Soundso wollte das auch nicht. So ist als Treffpunkt ein Café im Ortskern ausgemacht. Am Telefon hat der alte Herr zu mir noch gesagt: »Ich hoffe inständig, dass Sie normal kommen.«
So doof, wie ich bin, hatte ich das so interpretiert, dass er meint, ich solle nicht im schwarzen Anzug und nicht mit Zylinder kommen oder so. Aber Sandy hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass er auch meinen könnte, ich solle meinen Transenfummel zu Hause lassen.
Fünf Minuten vor der Zeit, so wie es meine Art ist, komme ich in das Café, und weil außer einigen älteren Damen nur ein Mann anwesend ist, schaue ich diesen fragend an. Er winkt mich mit seinem Stock zu sich. »So, Sie sind das also, der hier so einen Zirkus veranstaltet«, sind die Worte, mit denen er mich begrüßt.
Es ist ein älterer Herr mit polierter Glatze, er trägt einen dreiteiligen dunklen Anzug und eine randlose Brille.
Insgesamt eine vornehme Erscheinung. Mit den Worten: »Nehmen Sie Platz!«, deutet er auf den freien Stuhl ihm gegenüber. Danach gibt er mir unmissverständlich zu verstehen, dass er seine Anwälte beauftragt hat, um die Sache prüfen zu lassen und dass ich mit zivil- wie strafrechtlichen Folgen zu rechnen habe. »So, und jetzt kommen Sie«, sagt er dann, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust, wie ein Lateinlehrer, der einen aufgerufen hat und genau weiß, dass man nichts weiß.
Ich versuche, ihm klarzumachen, dass wir nur ein Dienstleister sind und einen ordnungsgemäßen Auftrag vorliegen haben, den wir – ganz nach Kundenwunsch – so gut wie möglich erfüllen. Außerdem sage ich: »Ich habe vollkommen Verständnis dafür, dass Sie auch auf Ihre Weise von Ihrem Sohn Abschied nehmen möchten, und wir würden gerne alles tun, damit das möglich wird.« Was dann folgt, will ich nur auszugsweise wiedergeben: »… hat es bei uns früher nicht gegeben …« – »… Männer müssen hart sein wie Krupp-Stahl …« – »…gehören alle kastriert …« – »…hätten ihn totschlagen sollen wie einen räudigen Hund …« und abschließend: »So was wie der darf ja sowieso nicht in geweihter Gotteserde bestattet werden. Meinetwegen können Sie ihn hinter der Friedhofsmauer verscharren, da wo die Kinderschänder und Selbstmörder hinkommen. Ich hätte ihn anonym verbrennen lassen, keine Anzeige, keine Feier, nichts!«
In diesem Moment wird mir erst klar, dass es dem Mann gar nicht darauf ankommt, seinen Sohn selbst zu bestatten, etwa um ihm eine besondere Bestattungsfeier zukommen zu lassen, sondern er will einfach den »Schandfleck« seines ganzen Lebens beseitigen und verscharren lassen. Da ist mir Röschens Variante lieber.
Ich wünschte, ich könnte meinen Lesern jetzt eine rührselige Geschichte erzählen, wie ich ihn dann doch noch dazu bringe, sich mit Röschen zu versöhnen und wie beide dann vielleicht gemeinsam Abschied nehmen …
Aber nein, dazu kommt es nicht. Er sitzt mir gegenüber, in seinen Mundwinkeln hat er weiße Flöckchen vom aufgeregten Sprechen, und er funkelt mich durch seine Brille an. Vielleicht sollte ich versuchen, ihn auf die altmodische Art zu kriegen, so nach dem Motto »Blut ist dicker als Wasser« oder mit der Geschichte vom verlorenen Sohn, aber während ich das noch denke, fragt er: »Ist da eine Zeitungsanzeige erschienen?«
Ich schüttele den Kopf, Röschen hat alle Freunde und Bekannten selbst eingeladen. Kallis Vater blickt mich mit zusammengekniffenen Augen prüfend an und sagt: »Besonders beeindruckt scheinen Sie nicht zu sein.«
»Weshalb sollte ich beeindruckt sein? Sie erstaunen mich zwar etwas, aber um mich zu beeindrucken, dazu gehört schon etwas mehr.«
»Wenn Sie mir versprechen, dass unser Name nicht in die Zeitung kommt und ich in dieser Sache nicht weiter belästigt werde, will ich davon absehen, Sie zu belangen. Sie machen ja auch nur Ihre Arbeit. Es würde zu weit führen, Ihnen alle Hintergründe zu erläutern, aber seien Sie versichert, ich habe meine Gründe.« Er steht auf, zieht eine Visitenkarte aus der Westentasche und sagt: »Die Rechnung geht hierhin!«
»Tut mir leid, aber der Auftraggeber …«
»Das interessiert mich nicht. Wenn Sie mir keine Rechnung schicken wollen, dann lasse ich Ihnen heute Nachmittag einen angemessenen Betrag zukommen. Sorgen Sie nur dafür, dass der Name meiner Familie nicht in die Zeitung kommt!«
Damit steht er auf, und im Weggehen dreht er sich nochmals um und sagt: »Ich möchte dann von dieser ganzen Sache nichts mehr hören, nichts mehr, haben Sie verstanden?«
Er wartet keine Antwort ab und überlässt es mir, die Rechnung im Café zu bezahlen.
»Arschloch«, denke ich und schaue auf die kleine Visitenkarte: »Richter am Landgericht a.D.« Na ja …
Am selben Tag, nachmittags
Um Punkt drei Uhr kommt Herr Rose in unser Haus. Zwar habe ich Anweisung gegeben, ihn gleich zu mir zu bringen, aber ich bin dann doch mal wieder am Telefon, und so wartet er auf dem Sofa in der Halle. Als ich dann nach knapp zehn Minuten zu ihm komme, sieht er nur kurz auf, grüßt nickend und blättert dann in einem kleinen Fotoalbum: »Schauen Sie mal hier, das ist er. Sind das nicht schöne Bilder?«
Ich setze mich neben ihn, betrachte das kleine Plastikalbum und sehe zwei Männer, die irgendwo, wo Palmen wachsen, in Urlaub sind.
Röschen blättert weiter um, hat zu jedem Foto etwas zu sagen, und dabei fallen mir seine gepflegten Hände auf. Sieht man selten bei Männern, entweder sind die Nägel mit irgendwas poliert oder klar lackiert. Übrigens riecht der Mann gut, und zwar keineswegs süßlich blumig, sondern ich würde auf »Fahrenheit« tippen.