Eine Stunde später sieht unsere Trauerhalle aus wie die Dekoration zu einem Revuefilm aus den 30ern – gigantisch! Alle meine Mitarbeiter stehen buchstäblich sprachlos vor dieser Blumenkulisse. Gott sei Dank macht mich eine Mitarbeiterin darauf aufmerksam, dass wir mit den Gestellen für die Girlanden die Leinwand nicht herunterfahren können, und Röschen will doch Dias zeigen. Also dekorieren wir noch leicht um, dann passt’s. Was dann folgt, ist Routine. Soundcheck, staubsaugen, Licht einstellen, damit die Spots auch die Blumen erfassen und passend verdunkeln.
Manche werden sich fragen, was da verdunkelt werden muss. Unsere Trauerhalle hat hinten Buntglasfenster im gotischen Stil, allerdings ist dahinter nicht »draußen«, sondern ein Versorgungsgang, z.B. zum Transport der Särge. Und an dieser Stelle beschwindeln wir die Kunden, denn das Sonnenlicht, das immer so schön durch die bunten Fenster seine Strahlen auf den Sarg wirft, wird ganz profan von punktgenau hinter den Fenstern plazierten Halogen-Strahlern erzeugt. Damit man die Strahlen schön sieht, wird immer Räucherwerk abgebrannt, weil sich die Lichtstrahlen an dem feinen Rauch so schön brechen. Der Beruf des Bestatters ist der Beruf eines Showmasters, wir verkaufen Emotionen. Vieles nur Schau und Schein, wie man sieht, aber die Atmosphäre ist atemberaubend. Wenn aber nun vorne viel auszuleuchten ist, kommen die Fenster nicht mehr zur Geltung, deshalb muss man vorher eine regelrechte Lichtprobe machen und das eine oder andere Licht abschalten.
Die Tafel draußen im Gang mit Steckbuchstaben versehen, das Kondolenzbuch kommt auf sein Pult, Kaffee und Wasser bereitstellen, Toiletten kontrollieren – nichts vergessen? War da nicht noch was mit Schampus? Ich will gerade anfangen, nervös zu werden, da kommt Party-Pauli und bringt blaue Boxen mit Eis und Champagner.
Gläser haben wir ja, aber sind die gespült? Doch wieder zu früh überlegt, Party-Pauli bringt auch Gläser mit. Wir bauen auf.
Der Pfarrer kommt, zieht sich im Rednerzimmer um und hat noch Zeit für einen Plausch. Er findet Röschen so lieb, und ich merke, dass er richtig Lust auf diese Trauerfeier hat. Egal, was da passiert, er will es bis zum Ende mitmachen.
Nun ist es fast 14 Uhr, und ich bin gespannt wie ein Flitzebogen. Röschen kommt – ganz in Weiß, gekleidet in Frack und Zylinder! Zwei Freunde folgen ihm, keine Fracks, aber auch in Weiß. An der Tür bleibt Röschen stehen und blickt von ganz hinten auf den Sarg, der inmitten eines Blütenmeeres steht. Er hebt die Hände vor den Mund, schließt die Augen, wankt den Bruchteil eines Augenblicks, schluckt, schaut noch einmal und schüttelt dann langsam den Kopf.
Ich frage: »Irgendwas nicht in Ordnung?« Röschen wendet den Kopf zu mir, schaut mich an und sagt dann nach endlos scheinenden zwei Sekunden: »Sooooo schöööön!«
Es kommen immer mehr Leute, Männerpaare, Frauenpaare, gemischte Paare, etliche kommen alleine, insgesamt sind es dreiundfünfzig Personen. Alle tragen etwas Weißes. Manche haben es geschafft, ganz in Weiß zu kommen, andere haben nur eine weiße Jacke oder nur eine weiße Hose.
Kennt jemand die Ouvertüre aus »Carmen«? Mit dem Schlag der Becken geht sie los, und genau dieser Schlag ist es, der mich zusammenfahren lässt. In voller Lautstärke spielt die Musik, und Röschen zieht unter diesen Klängen, gefolgt von allen Trauergästen, in die Halle ein, in der bis jetzt nur der Pfarrer vorne am seitlichen Pult steht. Ich kriege Gänsehaut.
Zwei, drei Minuten etwa lässt man die Musik spielen, dann wird es leise, alle sitzen. Der Pfarrer spricht, und es tut mir gut, dass er das Thema Liebe und Gemeinsamkeit in den Mittelpunkt stellt: »Darum lasst uns nicht nur traurig sein, dass wir Karl-Heinz verloren haben, lasst uns vor allem froh darüber sein, dass wir ihn gekannt haben. Lasst uns heute hier nicht seinen Abschied feiern, für die Trauer ist immer noch Zeit genug und Platz in unseren Herzen. Lasst uns heute mit Werner Rose zusammen feiern, das Leben von Kalli und Röschen feiern.«
Musik. Die Königin der Nacht …
Röschen steht auf, geht nach vorne, bleibt kurz vor dem Sarg stehen und weint. Er will wohl ans Rednerpult, bleibt aber vor dem Sarg stehen und weint laut schluchzend, während die Königin der Nacht durch unsere Trauerhalle klingt. Ich habe schon wieder Gänsehaut, und ich merke, wie ich – ganz Chef, ganz Mann – Tränen runterschlucke.
Jemand nimmt meinen Arm, ich merke, dass meine Frau neben mir steht, diese schöne, große Frau, und mir schießt durch den Kopf, wie es wäre, wenn sie da liegen und ich da stehen würde oder umgekehrt, und vorbei ist es mit dem Runterschlucken. Ich heule.
Röschen hustet, räuspert sich, und mit nassen Augen geht er ans Rednerpult … Ich spare seine Rede hier aus, aber ich habe noch NIE eine solche Liebeserklärung gehört. Knapp zehn Minuten spricht er, dann nickt er nach hinten, setzt sich wieder, und unsere Dia-Leinwand fährt herunter. Es tauchen Bilder von Kalli und Röschen auf, nur Bilder, auf denen beide sind, und dazu spielt Marianne Rosenbergs »Er gehört zu mir«. Jemand muss das Stück zusammengeschnitten haben, so scheint es mir: viele Instrumentalstellen, der Refrain häufiger als gewohnt, aber vielleicht gibt’s das ja so irgendwo auf CD.
Die Musik klingt aus. Der Pfarrer redet wieder, nach nur wenigen Sätzen spricht er ein Gebet, tritt an den Sarg, und dann ist er fertig und geht durch die seitliche Tür hinaus. Viel mehr an Emotionen kann man kaum ertragen, hinter mir zücken meine neugierigen Mitarbeiterinnen auch diverse Taschentücher, ich drehe mich nicht um, die sollen nicht sehen, dass ich geheult habe …
Stille. Man hört Leute, die sich räuspern. Röschen sitzt still ganz vorne, die beiden Herren ganz in Weiß neben ihm. Dann knackt es in den Lautsprechern und erst ganz leise und dann lauter werdend »Time To Say Goodbye«.
Röschen steht auf, macht in Richtung der Anwesenden eine einladende Handbewegung. Alle erheben sich, gehen nach vorne, bilden einen Halbkreis um den Sarg und wiegen sich im Takt der Musik. Dann kommt »Candle In The Wind« …
Taschentuch-Arie hinter mir … Kann man schöner Abschied nehmen?
Als die Musik verklungen ist, umarmen die Leute der Reihe nach Röschen, und dann ist die Trauerfeier vorbei. Man kommt heraus in die Halle, und meine Mitarbeiter verpieseln sich geschwind.
Hatte ich da nicht irgendwann mal was von »schrill« gehört? Freddy Mercury und Montserrat Caballé singen »Barcelona«, und es gibt Champagner. Und – ich kann es nicht anders beschreiben – es ist, als habe jemand einen Schalter umgelegt. Die Leute lachen, sie trinken, feiern, und Röschen hat rote Wangen. Manche gehen mit ihrem Glas sogar noch einmal zurück zum Sarg.
Zwei Stunden lang hat der Champagner gereicht, dann war der ganze Zauber auf einmal sehr schnell vorbei. Wir hatten genug aufzuräumen, und es tat richtig gut, etwas anderes tun zu können.
Danksagungen
Dieses Buch ist aus einem Weblog heraus entstanden. Ganz herzlichen Dank an alle Leser und Kommentatoren. Besonderer Dank gebührt Herrn Peter Roskothen und seiner bezaubernden Frau Geraldine, ohne deren Ermutigung und Unterstützung das Ganze gar nicht möglich gewesen wäre.
Ein ganz herzliches Dankeschön an Marc Albrecht, Herrn Joachim Jessen von der Literaturagentur Schlück sowie an Herrn Marko Jacob für ihre fachkundige Beratung.