Donnerstag, 14 Uhr
Bis jetzt gibt es keine neuen Erkenntnisse, außer dass die Sache meines Wissens als Unfall behandelt wird. Maria ist da und wurde eingebettet. Der Pathologe war gnädig und hat das Kind nicht zu sehr verschandelt – da habe ich schon anderes gesehen. Die offene Aufbahrung ist für heute Nachmittag angesetzt und dürfte wohl problemlos ablaufen.
Im Vorfeld haben wir uns überlegt, ob wir das in einem unserer Aufbahrungsräume machen sollen oder in unserer Hauskapelle. Einerseits ist die Kapelle viel größer, und auf Grund des zu erwartenden Besucherstroms liegt es zunächst nahe, diesen Raum zu verwenden. Aber ich befürchtete, dass die vielen Leute wegen der Dramatik der Vorfälle, wegen des jungen Alters der Verstorbenen und natürlich auch wegen des südländischen Temperaments möglicherweise zu Problemen führen könnten.
Unsere Aufbahrungsräume sind etwa vier Meter lang, drei Meter breit und durch ein Rolltor mit Kälteisolation in zwei Bereiche aufgeteilt, von denen der hintere gekühlt ist. Das Rolltor fährt fast lautlos nach oben und wird durch einen dicken Vorhang verdeckt, der sich erst öffnet, wenn es vollständig in der doppelten Decke verschwunden ist. Ein zweiter Vorhang dieser Art verdeckt die hintere Wand des Aufbahrungsraumes mit der Tür zu unserem Versorgungsgang, durch den die Verstorbenen herein- und hinausgefahren werden.
Im vorderen Bereich sind die Aufbahrungsräume unterschiedlich gestaltet: Einer ist mit einfachen Stühlen möbliert – den nehmen wir, wenn mit mehreren Personen zu rechnen ist –, ein anderer hat einen bequemen Sessel und einen kleinen Tisch, sonst nichts. Es kommt immer häufiger vor, dass Angehörige eine längere Zeit allein mit ihrem Verstorbenen verbringen möchten. Manche sitzen lange da und weinen, andere bringen einen CD-Player mit und spielen Musik ab, die für sie und den Verstorbenen eine Bedeutung hat, wieder andere möchten ihren Verstorbenen anfassen, streicheln oder ihm einfach etwas erzählen. Die technische Ausrüstung der Räume umfasst neben der Kühltechnik eine sehr aufwendige indirekte Beleuchtung, Kerzenständer, Blumenständer und künstliche Lorbeerbäumchen (echte würden bei der Kälte eingehen). Außerdem gibt es einen Rufknopf – um unsere Mitarbeiter herbeirufen zu können –, Steckdosen für die Geräte, die die Angehörigen mitbringen, und eine kleine Kamera mit Weitwinkeloptik. Über diese Kamera können wir das Treiben dort überwachen und notfalls einschreiten.
Es gibt immer mal wieder Gründe, warum wir eine weitergehende Beschäftigung der Angehörigen mit dem Verstorbenen ab einer gewissen Schwelle unterbinden müssen. Hierzu ist es unabdingbar, dass wir wissen, was die da genau machen. Selbstverständlich werden die Leute informiert, dass da eine Kamera ist – und letztlich dient sie auch dem Schutz der Besucher, denn es kommt immer mal wieder vor, dass Familienangehörige ohnmächtig werden, sich übergeben müssen oder Herz- und Kreislaufprobleme bekommen.
Doch nun zurück zu Maria
Einer unserer Aufbahrungsräume liegt am Ende des Versorgungsgangs. Er hat aus baulichen Gründen keinen frontalen Eingang, sondern zwei Türen, eine links, eine rechts. Wenn wir mit sehr großen Besucherzahlen rechnen, nehmen wir auch immer wieder diesen Raum – dann können die Besucher der Reihe nach durch die eine Tür eintreten, am Verstorbenen vorbeigehen, stehen bleiben und den Raum durch die andere Tür wieder verlassen. Ich plädierte dafür, dass wir diesen Raum nehmen, meine Frau sprach sich für die Kapelle aus. Auch die anderen Damen im Büro meinten, die Kapelle sei besser, während die Männer sich hinter mich stellten. Frauen haben da wohl eigene Vorstellungen, und in diesem Fall sollten sie recht behalten. Wir haben Maria in der Kapelle aufgebahrt. Die Vorhänge vor den hohen Buntglasfenstern haben wir nur einen Spaltbreit geöffnet, das Licht streift dann in langen hellen Fingern hindurch und beleuchtet den Raum nur spärlich. Der Sarg steht ganz hinten auf einem Podest, er ist geöffnet; die Kleine liegt friedlich darin, wie schlafend, ein schönes Kind. Blass ist sie, und ihre dunklen Augenbrauen stechen hervor. Unser Thanatopraktiker Rob hat beste Arbeit geleistet, pudert noch etwas und legt dann einen weißen, durchsichtigen Schleier über das Gesicht des Kindes. Besser ist das, es mildert alles etwas ab.
Hinter dem Sarg stehen neun große schwere Kerzenleuchter, auf denen dicke Kerzen brennen. Meine Frau hat Blumen bestellt – weiße Blumen mit viel Grün drum herum, lauter kleine Gestecke, die seitlich neben dem Sarg stehen. Sie hat auch eine CD gefunden, »Wellness-Musik« steht auf der Hülle – na ja, ich weiß ja nicht.
Aber die Leute werden es auch nicht wissen, und die Musik klingt sehr gut: weiche, sanfte Klänge, wie fließendes Wasser, harmonisch, irgendwie beruhigend. Die Frauen haben noch rote Rosenblätter besorgt und streuen sie über die Decke der Kleinen. Alles ist nahezu perfekt, doch eins gefällt mir nicht: Der kleine weiße offene Sarg wirkt wie ein Präsentierteller. Ich ordne an, den Sarg nicht längs, sondern quer hinzustellen. Herr Huber stattet den Deckel des Sarges noch mit einer Seidenbespannung aus und bringt ihn in die Aufbahrungshalle. Wir bringen ihn in hochgeklappter Position am Sarg an – das gibt ein perfektes Bild. Es sieht jetzt viel geborgener aus, finde ich. Mimi saugt den dicken Teppichboden ab, auf dem noch Blumenreste zu sehen sind. Nächstes Mal nehme ich auf jeden Fall eine andere Sorte Teppich – auf diesem hier muss man immer in die gleiche Richtung saugen, damit es keine Spuren gibt. Anschließend zünden wir im Nebenraum einige Räucherhütchen an – das legt einen bestimmten Duft über das Ganze –, dann noch einmal die Lüftung einschalten, damit es nicht zu stark wird. Wir richten im Vorraum Wasser und Kaffee, ein letzter Blick, alles ist okay. Jetzt können die Leute kommen.
Eine halbe Stunde später geht es los. Ein Onkel bildet die Vorhut. Er gibt sich sachlich und erklärt, dass alles in Ordnung kommt und dass es kein Verfahren gegen die Mutter gibt – ich bin beruhigt.
Dann kommen noch mehr Männer; keiner traut sich als Erster in die Kapelle, sie verstecken sich hinter recht lautem und durch wilde Gesten unterstrichenem Gespräch. Auf einmal tritt Ruhe ein, die Eltern des Kindes kommen und hinter ihnen rund vierzig Personen aller Altersklassen. Der Vater hat die Mutter am Arm und begrüßt mich. Ich schaue ihn fragend an, er nickt. Ich öffne die beiden Flügeltüren, die Eltern treten näher, bleiben stehen, schauen den Gang in der Mitte entlang, sehen den kleinen Sarg, und die Mutter schluchzt auf. Mein Gott, ich will nicht in deren Haut stecken, denke an meine Kinder …
Nach einer Sekunde des Verharrens gehen sie los, langsam, ganz langsam nähern sie sich dem Sarg. Die anderen bleiben draußen, lassen ihnen Privatsphäre, schenken ihnen die Minuten des schlimmen, aber so wichtigen Abschiednehmens. Ich höre, dass die Mutter noch mehr weint, sie sind jetzt direkt am Sarg, der Vater streichelt über die Decke, zupft am Schleier. Die anderen betreten den Raum, gehen nach vorne, einer nach dem anderen, manche als Paar zu zweit. So stehen sie da, es wird geweint und getuschelt, doch alle sind sehr ruhig. Ganz anders, als ich es erwart hatte – kein Palaver, kein theatralisches Geheule, es ist Frieden, es ist Ruhe. Eine ältere Dame, vielleicht die Großmutter, muss sich setzen; eine Mitarbeiterin hilft ihr und bringt ihr ein Glas Wasser; auch andere nehmen Platz. Ich nicke dem Mann am CD-Player zu, er dreht die Musik etwas lauter. Alle sitzen, nur die Eltern stehen noch am Sarg, die Köpfe aneinandergelegt …