Huber hat das nicht richtig mitbekommen, steht zunächst mit offenem Mund da, dann fragt er leise: »Hat die jetzt eins gegessen?«
»Also los!« kommandiert Frau Büser: »Antonia, du holst den Industriestaubsauger von unten, Toni holt den normalen Sauger, und dann rücken wir hier alles ab, so viel Zeug steht hier ja nicht herum. Alles wird abgesaugt, ausgesaugt und sauber gemacht!«
Sandy kaut Kaugummi und bemerkt so nebenbei: »Ihr denkt ja dran, in einer Dreiviertelstunde haben wir eine Trauerfeier …«
»Ach Gott, die Frau Grabenkampf!« entfährt es Frau Büser, und Huber macht sich mit einem Fahrer auf den Weg, um den Sarg aus dem Keller in die Trauerhalle unseres Hauses hochzufahren. Es wird keine große Trauerfeier werden, etwa zwanzig Personen, aber mit Orgelmusik und einer Diaschau. Der Witwer will die schönsten Urlaubsbilder projiziert haben.
»Okay«, sage ich, »Toni, Sandy und Antonia, ihr saugt und räumt, Sandy hat das Kommando. Frau Büser macht das Büro, und alle anderen kümmern sich um die Trauerhalle, wenn die ersten Leute kommen, muss alles wieder ordentlich aussehen.«
Es ist wenig Zeit, Trauergäste kommen immer etwas zu früh.
Alles rennt, alles räumt, die drei jungen Leute saugen. Alle Ritzen, alle dunklen Stellen, alle Ecken werden ausgesaugt, und da man auf dem dunklen Boden der Halle die Heimchen recht gut sieht, ist die Aktion auch von Erfolg gekrönt. Vor allem unter einem Sessel hatte sich eine ganze Kohorte der tückischen Zirpen zusammengerottet und verschwand in einem Rutsch im Rohr des Industriestaubsaugers.
»Ich glaub, wir haben alle«, verkündete Toni zwanzig Minuten später: »Das waren ja alles ganz kleine.«
»Na ja«, wendet Antonia etwas zögerlich ein: »Ein paar Große waren da doch dabei.«
»Egal«, kommandiert Sandy. »Alle Möbel wieder an ihren Platz, gleicht kommt schon der Pfarrer.«
Kaum ist alles halbwegs wieder aufgeräumt, kommen tatsächlich Pfarrer und Organist. In der Trauerhalle ist auch alles gerichtet, die Blumen und Kränze stehen schon seit früh um sieben Uhr. Allmählich treffen auch die Trauergäste ein. Herr Grabenkampf hat seine Dias dabei, und alles kann seinen Gang gehen.
Die Trauerfeier verläuft ohne weitere Zwischenfälle, und wir sind heilfroh, als Herr Grabenkampf anschließend zu uns kommt und sich für alles bedankt. »So eine schöne Atmosphäre, so schöne Musik. Es hat uns allen gut gefallen, und das war ein würdiger Abschied von meiner Frau. Es war so eindrucksvoll, die Orgelmusik, dazu die Bilder vom Wald, man hat die Grillen förmlich zirpen gehört …«
Wir wissen nicht, ob eines unserer Heimchen in der Trauerhalle für eine zusätzliche Untermalung gesorgt hat, aber so ganz sicher, ob wir alle gefangen haben, sind wir nicht.
Olugulade
Man stellt mir auch immer wieder die Frage, ob mich als Bestatter ein Sterbefall noch berühren kann, ob ich mitleide und mitempfinde. Nun, mitempfinden muss man, mitleiden kann man oft nicht, tut es aber hin und wieder doch. Glücklicherweise bestatten wir ja überwiegend alte Leute, die ihr Leben hinter sich haben, deren Zeit einfach gekommen ist. Wollte ich da jedes Mal, so schwer der Verlust auch für die Familie sein mag, großartig in Trauer verfallen, hätte ich keinen klaren Kopf, um die Sache ordentlich abwickeln zu können. Bestatter müssen auch Distanz bewahren. Man würde verrückt, würde man bei jedem Verstorbenen emotional beteiligt sein. Doch es gibt natürlich nicht nur alte Menschen, die sterben, und es gibt Schicksale, die einen ganz besonders berühren. Eine Geschichte hat uns anderthalb Jahre lang beschäftigt. Es ist die längste Geschichte in diesem Buch, weil es da so viel zu erzählen gibt.
Olugulade ist nicht etwa eine besondere Schokoladensorte, Olugulade ist ein Nachname aus Nigeria und gehört einem Afrikaner, der auch noch zwei Vornamen hat, nämlich Kaldawule und Emmanuel.
Insgesamt hört der Mann also auf den Namen Kaldawule Emmanuel Olugulade.
Aber genau genommen hört Kaldawule auf gar nichts mehr, er ist nämlich tot – und es sieht so aus, als würde er uns noch einige Probleme bereiten, denn viel mehr als diesen Namen hat er nicht.
Mittwochabend suchte mich Herr Bauer auf. Herrn Bauer kenne ich schon viele Jahre, er hat hier seine Mutter und seinen Vater bestatten lassen und vor einigen Monaten für seine schwerkranke und pflegebedürftige Frau alles geregelt, die schon seit einem halben Jahr langsam vor sich hin stirbt. Außerdem ist er Vermieter und hat eine Wohnung an ebenjenen Herrn Olugulade vermietet.
Diese Wohnung wollte der Nigerianer gestern gegen 15 Uhr beziehen, ist zu diesem Behufe mit einem angemieteten Kleinlaster vorgefahren und hat sich zwei Straßen weiter den Wohnungsschlüssel bei Herrn Bauer abgeholt und bei diesem große Verwunderung hinterlassen, weil er für das Abladen seines Hausrates keine Hilfe organisiert hatte. Nur sein neunjähriger Sohn Daniel begleitete ihn. Gegen 16 Uhr dauerte Herrn Bauer der Afrikaner, und er beschloss, mal nach ihm zu sehen und ihm bei Bedarf seine Hilfe anzubieten. Doch als er in die Straße einbog, sah er schon den kleinen Daniel herumlaufen, der, wie er dann erfuhr, einen Arzt suchte, denn der Vater habe Husten und brauche Medizin. Herr Bauer nahm das Kind erst mal an die Hand, um nach Vater Olugulade zu schauen. Er konnte aber nicht viel helfen, denn Olugulade saß auf der Toilette und war tot.
Krankenwagen, Notarzt, Polizei, Abtransport durch Pietät Eichenlaub, Rechtsmedizin.
Die Polizei wollte auch Daniel gleich mitnehmen, um ihn dem Notfalldienst des Jugendamtes zu überstellen, doch Herr Bauer meinte, das Kind könne vorübergehend auch bei ihm bleiben.
Nun sitzt er vor mir, will wissen, wie es weitergeht, und ist ziemlich verwirrt.
Mein Einwand, dass sich die Behörden um alles kümmern werden, beruhigt ihn nicht.
»Ich weiß von Herrn Olugulade nur, dass er eine Frau hat, die hochschwanger irgendwo in einem Krankenhaus liegt, ich glaube in Bielefeld. Man kann den Mann doch nicht jetzt einfach beerdigen oder so, ohne dass das geklärt ist.«
»Was hat denn das Kind gesagt, wo seine Mutter ist?«, frage ich.
»Der weiß es überhaupt nicht, der weiß nur, dass sie in einer Stadt mit B ist. Was ist, wenn die die Frau nicht rechtzeitig finden?«
Da hat er recht. Wir sind ja durch die Superermittler vom CSI verwöhnt, die nur die Farbe eines Ohrläppchens in ihren Supercomputer eintippen und sofort auf dem Handy die komplette Strafakte jeder Person nachlesen und diese Person auch noch per Satellitenbild orten können. Die Wirklichkeit deutscher Polizeiarbeit sieht doch ein wenig anders aus, und so erkläre ich Herrn Bauer, dass ich mit den ermittelnden Beamten sprechen werde – mal sehen, ob die ihm helfen können.
»Gut«, sage ich, stehe auf und will Herrn Bauer hinausbegleiten, merke aber, dass er noch etwas auf dem Herzen hat. »Ist noch was?«, erkundige ich mich.
»Ja, ich habe doch den kleinen schwarzen Jungen aufgenommen. Aber mir wird das zu viel mit meiner Frau und dem Kind. Kann der nicht zu Ihnen kommen? Sie haben doch auch Kinder.«
»Bringen Sie ihn mal her, meine Frau kümmert sich darum. Da werden wir schon eine Lösung finden.«
Jetzt haben wir also ein Kind mehr – zumindest mal für ein, zwei Tage, bis wir genau wissen, wo die Mutter des Kleinen steckt.
Freitagvormittag wollten die Herren der Kripo noch einmal in die Wohnung der Olugulades, um mit Klebeband und Plastikröhrchen Proben vom Teppichboden zu nehmen. Ich erfahre, dass Herr Olugulade anscheinend an einer Art asthmatischem Anfall verstorben, also quasi auf dem Klo sitzend erstickt ist. Als eine der möglichen Ursachen vermutet man Fasern vom Bodenbelag, auf dem der Afrikaner genächtigt hatte. Sie erzählen mir noch, dass er zuvor in Duisburg im Ruhrgebiet gewohnt habe. Er sei dort als Student eingeschrieben gewesen, habe aber jetzt hier einen Studienplatz bekommen und sei deshalb kurzerhand umgezogen. Seine Frau, so viel weiß man, ist Krankenschwester und arbeitete vor der Schwangerschaft in einem Duisburger Krankenhaus. Mehr weiß man nicht, vor allem nicht, wo sie jetzt ist. Olugulade habe sie in ein Krankenhaus gebracht, aber keiner weiß, in welches. Und es sei eben auch nicht so wie im Fernsehen, dass man mal eben alle Krankenhäuser abtelefonieren könne. Das versuche man zwar, aber eben nur bei denen, die am ehesten in Frage kommen, nicht bei allen. Was denn jetzt mit dem Kind sei, erkundige ich mich, und die Beamten verweisen mich an das Jugendamt. Dort sagt man mir, dass noch heute jemand bei uns vorbeikommt, also heißt es abwarten.