«Hört auf. «Nicholas hob eine Hand und ließ sie erschöpft wieder sinken.»Ja, ihr seid schuld. Und zwar alle beide. Aber das spielt jetzt auch keine Rolle mehr.«
Er drehte sich auf dem Absatz um und ließ sie allein. Sie hörten ihn den Flur entlangschlurfen und kurz darauf die Treppe hochsteigen.
Sie fuhren nach Hause. Als hätte sie gewusst, dass sie über die hintere Einfahrt kommen würden — wahrscheinlich war sie auf dem Dach ihres Turms gewesen, von wo aus sie, wie Valerie inzwischen wusste, seit Jahren alles und jeden beobachtete —, stand Mignon vor dem Haus und erwartete sie bereits. Klugerweise war sie ohne ihren Rollator gekommen, dieses Spiel war endgültig vorbei. Zum Schutz gegen die Kälte hatte sie sich in einen dicken Wollmantel gewickelt. Es war ein herrlicher Morgen, wie manchmal nach einem heftigen Regen, die Sonne schien wie ein Sinnbild der Hoffnung und tauchte die Wiesen und die Damhirsche, die in der Ferne grasten, in goldenes Herbstlicht.
Mignon kam auf sie zu, als Valerie ausstieg.»Was ist passiert, Mum?«, fragte sie.»Warum seid ihr gestern Abend nicht nach Hause gekommen? Ich war ganz krank vor Sorge. Ich hab die halbe Nacht kein Auge zugetan. Um ein Haar hätte ich die Polizei gerufen.«
«Alatea …«, sagte Valerie.
«Natürlich, Alatea«, sagte Mignon.»Aber warum um Himmels willen seid ihr nicht nach Hause gekommen?«
Valerie sah ihre Tochter verständnislos an. Aber war Mignon ihr nicht schon immer fremd gewesen?
«Ich bin viel zu müde, um jetzt mit dir zu reden«, sagte sie.
«Mum!«
«Mignon, es reicht«, sagte ihr Vater.
Valerie hörte, dass Bernard ihr folgte. Sie hörte Mignon maulen. Sie blieb stehen und drehte sich um.»Du hast gehört, was dein Vater gesagt hat. Es reicht.«
Sie ging ins Haus. Sie war zu Tode erschöpft. Bernard sagte ihren Namen, als sie die Treppe hochgehen wollte. Er klang zögerlich, verunsichert auf eine Art, die sie an Bernard Fairclough noch nie erlebt hatte.
Sie sagte:»Ich lege mich eine Weile hin, Bernard«, und ging nach oben.
Sie wusste, dass sie irgendeine Entscheidung treffen musste. Ihr Leben war ein Scherbenhaufen, und sie würde sich überlegen müssen, wie diese Scherben sich wieder zusammensetzen ließen, welche davon noch zu gebrauchen waren und welche davon in den Müll gehörten. Und sie wusste, dass ein Großteil der Verantwortung für das, was geschehen war, auf ihren Schultern lastete. Sie war schon lange über Bernards Doppelleben im Bilde gewesen, und dieses Wissen und wie sie mit diesem Wissen umgegangen war, das waren ihre Sünden, für die sie bis ans Ende ihrer Tage würde büßen müssen.
Ian hatte ihr natürlich alles erzählt. Obwohl sein Onkel ihm die Finanzen der Firma anvertraut hatte, hatte Ian immer gewusst, wer bei Fairclough Industries wirklich die Macht besaß. Sicher, Bernard kümmerte sich um das Alltagsgeschäft, er traf viele Entscheidungen. Bernard, Manette, Freddie und Ian hatten gemeinsam dafür gesorgt, dass das Unternehmen seine Marktposition ausbauen konnte, hatten es auf eine Weise modernisiert, die Valerie gar nicht erst in den Sinn gekommen wäre. Aber wenn der Vorstand zweimal im Jahr zusammenkam, nahm sie den Platz am Kopfende des Konferenztischs ein, und keiner hatte das je in Frage gestellt, denn so war es immer gewesen. Man konnte die Karriereleiter hochklettern, doch irgendwann stieß man an die Decke, und sie zu durchbrechen, war eine Frage des Bluts und nicht der Kraft.
«Ich habe etwas Seltsames und ziemlich Beunruhigendes entdeckt«, hatte Ian eines Tages zu ihr gesagt.»Ehrlich gesagt wollte ich es dir eigentlich ersparen, Tante Val, weil … na ja, weil du immer gut zu mir gewesen bist, und Onkel Bernie natürlich auch, und eine Zeitlang dachte ich, ich könnte das Geld ein bisschen hin und her schieben und die Ausgaben vertuschen, aber inzwischen sehe ich nicht mehr, wie ich das machen soll.«
Als Ian Cresswell nach dem Tod seiner Mutter aus Kenia zu ihnen gezogen war, war er ein netter Junge gewesen. Und er war zu einem sympathischen Mann herangewachsen. Es war wirklich schade, dass er seine Frau und seine Kinder so tief verletzt hatte, als er sich zu seiner Neigung bekannt und beschlossen hatte, das Leben zu führen, das für ihn bestimmt war. Aber manchmal widerfuhren den Menschen eben solche Dinge, und dann musste man sehen, wie man damit zurechtkam. Jedenfalls hatte Valerie verstanden, was ihm Sorgen bereitet hatte, sie hatte seinen Loyalitätskonflikt akzeptiert, und sie war dankbar gewesen, als er ihr die Ausdrucke gezeigt hatte, die belegten, wohin das ganze Geld floss.
Sein Tod hatte sie schrecklich getroffen. Obwohl es ein Unfall gewesen war, machte sie sich Vorwürfe, weil sie nicht mit genug Nachdruck auf die losen Steine im Steg hingewiesen hatte. Andererseits hatte sein Tod ihr den Vorwand geliefert, auf den sie so lange gewartet hatte. Die einzige Methode, Bernard zu bestrafen, bestand ihrer Meinung nach darin, ihn vor der ganzen Familie zu demütigen. Seine Kinder sollten erfahren, was für ein Mann ihr Vater war. Dann würden sie ihm sagen, er solle sich nach London zu seiner Mätresse und seinem Bastard scheren, und sich schützend um ihre Mutter scharen. Auf diese Weise würde Bernard für seine Sünden bezahlen. Denn die Kinder hatten Fairclough-Blut in den Adern, und sie würden die Obszönitäten ihres Vaters keine Sekunde lang dulden. Später, wenn eine angemessene Zeit verstrichen war, würde sie ihm verzeihen. Was blieb ihr auch anderes übrig nach zweiundvierzig Jahren Ehe?
Sie trat ans Fenster ihres Zimmers, von dem aus man eine herrliche Aussicht auf den See hatte. Zum Glück, dachte sie, konnte sie von hier aus nicht den Fantasiegarten sehen, der jetzt wohl nicht mehr fertiggestellt würde. Sie betrachtete den See, in dessen spiegelglatter Oberfläche sich die Fichten am Ufer, die Felsen gegenüber Ireleth Hall und die dicken, weißen Kumuluswolken spiegelten, die wie immer nach einer stürmischen Nacht gemächlich über den Himmel zogen. Es war ein perfekter Herbsttag, sauber und frisch. Valerie hatte das Gefühl, nicht in diesen Tag hineinzupassen. Sie kam sich alt und verbraucht vor. Ihre Seele erschien ihr beschmutzt.
Sie hörte, dass Bernard ins Zimmer kam, doch sie drehte sich nicht um. Sie hörte, wie er sich ihr näherte, und aus den Augenwinkeln sah sie, dass er ein Tablett mitgebracht hatte, das er auf dem kleinen Tisch zwischen den beiden Fenstern abstellte. Über dem Tisch hing ein großer Spiegel, und darin sah Valerie, dass Bernard ihr Tee, Toast und gekochte Eier gebracht hatte. Und sie sah das Gesicht ihres Mannes.
Er war der Erste, der das Schweigen brach.»Ich habe es getan, weil ich es tun konnte. So ist mein ganzes Leben verlaufen. Ich schätze, es war wie eine Herausforderung. So wie damals, als ich dich erobert habe. So ähnlich wie die Herausforderung, mehr aus der Firma zu machen, als es dein Vater und dein Großvater vermocht hatten. Ich weiß nicht einmal, weshalb mir das Ganze so wichtig gewesen war, und das ist das Schlimmste, denn es lässt mich befürchten, dass ich es wieder tun würde.«
«Was für ein tröstlicher Gedanke«, bemerkte sie sarkastisch.
«Ich versuche, dir gegenüber ehrlich zu sein.«
«Noch so ein tröstlicher Gedanke.«
«Hör zu. Das Verteufelte ist, dass ich nicht behaupten kann, es hätte mir nichts bedeutet, denn das stimmt nicht. Ich weiß nur nicht genau, warum es mir so wichtig gewesen war.«
«Sex«, sagte sie.»Männlichkeit, Bernard. Du wolltest dir beweisen, dass du doch nicht so ein kleiner Wicht bist.«
«Das kränkt mich«, sagte er.
«Das soll es auch. «Sie betrachtete wieder den See. Sie musste einige Dinge in Erfahrung bringen, ehe sie eine Entscheidung traf, also konnte sie das genauso gut jetzt gleich hinter sich bringen.»Hast du es eigentlich immer getan?«, fragte sie.
Er besaß den Anstand, nicht zu fragen, was sie meinte.»Ja«, sagte er.»Na ja, nicht immer. Nur gelegentlich. Na ja, ziemlich häufig. Meistens, wenn ich geschäftlich unterwegs war. In Manchester zum Beispiel. Oder in Birmingham. In Edinburgh. In London. Aber vor Vivienne nie mit einer Angestellten. Und selbst bei ihr war es anfangs genauso wie bei den anderen. Weil ich es konnte. Aber mit der Zeit entwickelte sich mehr zwischen uns, und ich sah die Chance, zwei Leben zu führen.«