«Ganz schön clever«, sagte sie.
«Stimmt, ganz schön clever.«
Sie schaute ihn an. Er war tatsächlich klein. Sie überragte ihn fast um Haupteslänge, und doch hatte sie ihn nie als klein empfunden. Aber er war es. Klein, ein bisschen feingliedrig, frech, mit einem kecken Grinsen … Gott, dachte sie, ihm fehlten nur noch ein Buckel, ein Wams und eine Strumpfhose. Sie hatte sich so leicht verführen lassen wie Lady Anne.»Warum, Bernard?«, fragte sie, und als seine Augen schmal wurden, fügte sie hinzu:»Warum zwei Leben? Für die meisten Menschen ist eins mehr als genug.«
«Das weiß ich«, antwortete er.»Das ist der Fluch, mit dem ich lebe. Ein Leben war mir nie genug. Ein Leben hat mir einfach nicht … Ich weiß auch nicht.«
Aber sie wusste es, und vielleicht hatte sie es von Anfang an gewusst.»Ein Leben hätte nicht gereicht, um dir zu beweisen, dass du mehr bist als Bernie Dexter aus der Blake Street in Barrow-in-Furness.«
Er schwieg. Draußen ertönten Entenrufe, und Valerie wandte sich wieder dem Fenster zu. Etwa ein Dutzend Enten flogen in V-Formation in Richtung Fell Foot Park. Enten, die abhoben oder landeten, dachte sie, wirkten beinahe lächerlich, aber im Flug wirkten sie so elegant wie andere Vögel auch. Nur die Art, wie sie in die Luft gelangten, ließ sie tölpelhaft und schwerfällig erscheinen.
«Ja«, sagte Bernard.»Ich glaube, da hast du recht. Die Blake Street war das Loch, aus dem ich gekrochen bin, aber die Wände waren glitschig. Eine falsche Bewegung, und ich wäre wieder zurück in das Loch gefallen.«
Sie ging zu dem kleinen Tisch zwischen den Fenstern. Er hatte nur ein Gedeck auf das Tablett gestellt. Eine Tasse, eine Untertasse, zwei gekochte Eier, aber nur einen Eierbecher, Besteck für eine Person und eine weiße Serviette. Anscheinend war er sich seiner selbst doch nicht so sicher. Das stimmte Valerie schon etwas gnädiger.
«Wer bist du?«, fragte sie ihn.»Und wer willst du sein?«
Er seufzte.»Valerie, ich möchte dein Mann sein. Ich kann dir nicht versprechen, dass das — du und ich und alles, was wir uns aufgebaut haben — nicht in ein paar Monaten den Bach runtergeht. Aber ich möchte dein Mann sein.«
«Und das ist alles, was du mir anzubieten hast? Nach fast dreiundvierzig Jahren?«
«Das ist alles, was ich anzubieten habe.«
«Warum in aller Welt sollte ich dieses Angebot annehmen? Dich als meinen Mann ohne irgendeine Dreingabe wie Ehrlichkeit, wie Treue, wie …«Sie zuckte die Achseln.»Ich weiß es selbst nicht mehr, Bernard.«
«Was?«
«Was ich von dir will. Ich weiß es nicht mehr. «Sie schenkte sich Tee ein. Er hatte Zitrone und Zucker mitgebracht, keine Milch, so wie sie ihren Tee immer trank. Er hatte Toast ohne Butter mitgebracht, so wie sie ihn immer aß. Er hatte Pfeffer mitgebracht, aber kein Salz, so wie sie ihr gekochtes Ei immer würzte.
Er sagte:»Valerie, wir haben eine gemeinsame Geschichte. Ich habe dir und unseren Kindern ein großes Unrecht angetan, das weiß ich, und das weißt du. Weil ich Bernie Dexter aus der Blake Street bin. Mehr hatte ich dir von Anfang an nicht zu bieten.«
«Was ich alles für dich getan habe«, sagte sie leise.»Um dir zu gefallen, um dich zufriedenzustellen.«
«Ja, das hast du wirklich«, sagte er.
«Was es mich gekostet hat … Das kannst du nicht ahnen, Bernard. Das wirst du nie wissen. Wir müssen eine Abrechnung machen. Verstehst du das? Kannst du das verstehen?«
«Ja«, sagte er.»Das kann ich verstehen.«
Sie führte die Tasse an ihre Lippen, aber er nahm sie ihr aus der Hand und stellte sie vorsichtig wieder auf die Untertasse.
«Bitte, lass mich damit anfangen«, sagte er.
Die Polizei hatte einen Krankenwagen gerufen, der Tim ins Krankenhaus in Keswick gebracht hatte. Manette hatte darauf bestanden, im Krankenwagen mitzufahren, denn auch wenn sie sonst nichts über den Zustand des Jungen und seine Aussichten auf Heilung wusste, so wusste sie doch, dass er von jetzt an immer einen Angehörigen in der Nähe haben musste, und das war in dem Fall sie.
Beim Eintreffen der Polizei hatte die Alarmanlage immer noch geschrillt, als stünde der Jüngste Tag bevor. Manette hatte auf dem Bett gesessen und Tims Kopf auf ihrem Schoß gewiegt, während Freddy versucht hatte herauszufinden, was sich in dem Laden abgespielt hatte. Die Übeltäter waren über alle Berge, die Kamera war fort, und es war keine Spur von einem Computer zu entdecken, aber in ihrer Eile hatten die Beteiligten andere Dinge zurückgelassen: ein Herrenjackett samt Brieftasche, eine Damenhandtasche, die einen Reisepass enthielt, und einen ziemlich schweren Safe. Die Polizei würde bald feststellen, was sich darin befand, dachte Manette.
Tim hatte in seinem benommenen Zustand immer wieder zwei Sätze gemurmelt:»Er hat es versprochen «und» Bitte nichts verraten. «Manette streichelte ihm über den Kopf — sein Haar war lang und ungepflegt — und sagte:»Keine Sorge, Tim. Mach dir keine Sorgen.«
Als den uniformierten Polizisten klar geworden war, womit sie es zu tun hatten, hatten sie die Kollegen von der Sitte verständigt. Und so hatten sich Manette und Freddie erneut Superintendent Connie Calva gegenübergesehen. Sie betrat den Raum und betrachtete die Szenerie: die viktorianische Einrichtung, das offene Fenster, Big Ben im Hintergrund, den Plüschhund am Fußende des Betts, die Kostüme auf dem Boden, Tim, der mit dem Kopf auf Manettes Schoß lag. Dann hatte sie die Constables gefragt:»Haben Sie einen Krankenwagen gerufen?«Und zu Manette hatte sie gesagt:»Tut mir leid, mir waren die Hände gebunden. Ich muss mich an die Vorschriften halten. «Manette hatte sich abgewandt, aber Freddie war der Kragen geplatzt:»Kommen Sie uns nicht mit Ihren verdammten Vorschriften!«Dafür hätte Manette ihn umarmen können, und ihr waren fast die Tränen gekommen vor Verzweiflung darüber, dass sie so dumm gewesen war und Freddie McGhie bis zu diesem Augenblick nie gesehen hatte, wie er wirklich war.
Superintendent Calva ließ sich nicht beirren. Sie schaute Manette an und fragte:»Ich nehme an, Sie sind zufällig hier reingeraten. Sie haben die Alarmanlage gehört, die Sauerei draußen gesehen und Verdacht geschöpft, richtig?«
Manette schaute Tim an, der angefangen hatte zu zittern, und traf eine Entscheidung. Sie räusperte sich und sagte, nein, sie seien nicht zufällig in den Laden gestolpert, auch wenn es sehr freundlich von Superintendent Calva sei, das anzunehmen. Sie und ihr Mann — sie vergaß, Exmann zu sagen — seien mit Gewalt in den Laden eingedrungen. Sie hätten sich über das Gesetz hinweggesetzt und würden die Konsequenzen dafür in Kauf nehmen. Leider seien sie nicht rechtzeitig eingetroffen, um die Vergewaltigung eines Vierzehnjährigen und die Filmaufnahmen für die Perversen in aller Welt verhindern zu können, aber den Rest würden sie der Polizei überlassen, ebenso wie die Entscheidung, auf welche Weise man mit ihr und ihrem Mann — wieder vergaß sie, ihn als ihren Exmann zu bezeichnen — verfahren wolle, nachdem sie in den Laden eingebrochen waren oder wie auch immer die Polizei ihr Vorgehen bezeichnen wolle.
«Als Malheur, würde ich sagen«, hatte Superintendent Calva daraufhin gesagt.»Oder vielleicht als dummen Streich? Auf jeden Fall müssten diese Müllcontainer mit irgendeiner Art Bremsen ausgestattet werden, damit sie nicht in Schaufenster rollen können. «Sie hatte sich noch einmal umgesehen und ihre Leute angewiesen, Beweismittel einzusammeln. Dann hatte sie gesagt:»Wir werden von dem Jungen eine Aussage brauchen.«
«Aber nicht jetzt«, hatte Manette geantwortet.
Dann waren sie zum Krankenhaus gefahren. Die Ärzte und Krankenschwestern im Krankenhaus in Keswick waren sehr behutsam mit Tim umgegangen und hatten ihn schließlich in Manettes Obhut entlassen. Sie und Freddie hatten ihn mit nach Hause genommen, hatten ihn in die Badewanne gesteckt, ihm eine warme Suppe vorgesetzt, noch eine Weile mit ihm am Küchentisch gesessen und ihn schließlich ins Bett verfrachtet. Dann hatten sie sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Manette hatte in ihrem Zimmer eine schlaflose Nacht verbracht.