Am frühen Morgen, noch bevor es hell wurde, hatte sie Kaffee aufgesetzt. Sie hatte sich an den Küchentisch gesetzt, und jetzt starrte sie mit leerem Blick ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe an, hinter der noch dunkle Nacht herrschte und irgendwo in der Nacht der See lag, an dessen Ufer die Schwäne noch im Schilf schliefen.
Als Nächstes würden sie wohl Niamh anrufen müssen. Sie hatte Kaveh bereits am Abend zuvor Bescheid gesagt und ihn gebeten, Gracie auszurichten, sie brauche sich keine Sorgen um ihren Bruder zu machen.
Und jetzt musste sie sich irgendwie mit Niamh auseinandersetzen. Als Tims Mutter hatte sie das Recht zu wissen, was vorgefallen war, aber Manette fragte sich, ob es wirklich nötig war, dass Niamh es erfuhr. Was wenn sie nicht reagierte und Tim erfuhr davon? Dann wäre er doch sicher am Boden zerstört, oder? Und hatte er nicht schon genug durchgemacht? Andererseits mussten sie sich irgendwann bei Niamh melden, denn immerhin wusste sie, dass ihr Sohn vermisst wurde.
Manette saß am Küchentisch und zerbrach sich den Kopf, was zu tun war. Tim zu verraten war undenkbar. Zugleich würde er aber auch Hilfe brauchen. Die konnte er in der Margaret Fox School bekommen, wenn er sich dort kooperativ verhielt. Doch wann war Tim jemals kooperativ gewesen? Und wie konnte man von ihm erwarten, dass er nach allem, was ihm widerfahren war, plötzlich kooperativ war? Warum, zum Teufel, sollte er es auch sein? Wem konnte er denn noch trauen?
Gott, war das alles ein Schlamassel, dachte Manette. Sie wusste überhaupt nicht, wie sie dem Jungen helfen sollte.
Sie saß immer noch am Küchentisch, als Freddie nach unten kam. Offenbar war sie auf ihrem Stuhl eingenickt, denn es war taghell, und Freddie war gerade dabei, sich eine Tasse Kaffee einzuschenken, als sie aufschreckte.
«Ah, du lebst ja noch«, bemerkte Freddie. Er schüttete den Inhalt ihrer Kaffeetasse in die Spüle und schenkte ihr frischen Kaffee ein.»Kopf hoch, Kleine«, sagte er und klopfte ihr auf die Schulter.»Nach einem Viertelstündchen auf deinem Laufband fühlst du dich bestimmt wieder viel besser.«
Als er sich ihr gegenüber an den Tisch setzte, fiel Manette auf, dass er seinen besten Anzug anhatte. Genau genommen trug er seine Hochzeits-, Tauf- und Beerdigungskluft, wie er es nannte: der gute Anzug, weißes Hemd mit Manschettenknöpfen und Einstecktuch aus Batist. Er saß da, zufrieden mit sich selbst, von Kopf bis Fuß geschniegelt und gestriegelt, als wäre der vergangene Tag nicht einer der schlimmsten Alpträume gewesen.
Mit einer Kinnbewegung wies er auf das Telefon, das vor ihr auf dem Tisch lag, und sagte:»Hm?«Manette sagte ihm, dass sie Kaveh angerufen habe.»Und was ist mit Niamh?«, wollte Freddie wissen, worauf sie antwortete:»Das ist die große Frage, nicht wahr?«Sie erzählte ihm, dass Tim sie angefleht hatte, seiner Mutter nichts zu verraten, als sie am Abend noch einmal nach ihm gesehen hatte.
«Aber ich sollte sie wenigstens anrufen und ihr Bescheid geben, dass er bei uns ist«, sagte sie.»Auch wenn mir selbst das widerstrebt.«
«Warum?«
«Aus demselben Grund, warum Tim mich gebeten hat, ihr nichts von dem zu erzählen, was gestern passiert ist. Manchmal ist es leichter, die Wahrheit über jemanden nicht so genau zu kennen. Tim kann sich denken — oder besser gesagt, ich kann mir denken —, dass es ihr egal ist oder dass sie nicht reagieren wird oder dass sie sich ärgert, und das war’s. Aber wenn ich sie anrufe, dann werde ich die Wahrheit über Niamh Cresswell erfahren. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich das möchte. Und Tim will es mit Sicherheit auch nicht.«
Freddie hörte sich das alles geduldig an. Schließlich sagte er:»Ah, verstehe. Tja, da kann man wohl nichts machen, oder?«Er nahm das Telefon und gab die Nummer ein.»Ist ein bisschen früh, aber gute Nachrichten sind doch immer willkommen, oder?«, murmelte er. Er lauschte eine Weile, dann sagte er:»Hallo Niamh, hier ist Fred. Hoffe, ich hab dich nicht geweckt? … Äh, tut mir leid … Wir hatten eine ziemlich unruhige Nacht … Wirklich? Das freut mich … Hör mal, Niamh, wir haben Tim hier bei uns … Ach, er ist ein bisschen erkältet, weil er sich nachts draußen rumgetrieben hat, der Schlingel … Wir haben ihn zufällig in Windermere aufgegabelt. Manette pflegt ihn schön … Ja, ja, genau. Könntest du in der Schule anrufen und denen Bescheid sagen … Ach so. Na ja, klar. Sicher … Du hast Manette doch auch auf seine Karte gesetzt, oder? Sehr gut … Manette und ich würden Tim und Gracie gern eine Weile bei uns behalten. Was hältst du davon? … Hmm, ja. Großartig, Niamh … Manette wird sich freuen. Sie mag die beiden sehr.«
Das war’s. Freddie beendete das Gespräch, legte das Telefon auf den Tisch und trank einen Schluck Kaffee.
Manette sah ihn entgeistert an.»Was ist denn in dich gefahren?«
«Das muss man doch alles organisieren.«
«Ja, natürlich. Aber bist du verrückt geworden? Wir können die Kinder doch nicht zu uns nehmen!«
«Warum denn nicht?«
«Freddie, unser Leben ist ein einziges Chaos. Und was Tim und Gracie jetzt brauchen, ist Stabilität.«
«Ah, ja, Chaos. Richtig. Ich weiß.«
«Tim dachte, der Mann würde ihn umbringen, Freddie. Er braucht Hilfe.«
«Also, das ist doch nachvollziehbar, oder? Dass er gedacht hat, der Kerl bringt ihn um. Er muss fürchterliche Angst gehabt haben. Er ist da in was reingeraten, was er überhaupt nicht verstanden hat und …«
«Nein, du verstehst das nicht. Er dachte, der Mann würde ihn umbringen, weil das die Abmachung war, die er mit ihm getroffen hatte. Das hat er mir gestern Abend erzählt. Er hat gesagt, er hätte sich unter der Bedingung auf die Filmerei und alles eingelassen, dass dieser Toy4You ihn hinterher umbringen würde. Weil er nicht den Mumm hatte, sich selbst umzubringen. Er wollte es, aber er hat’s nicht über sich gebracht. Und vor allem wollte er nicht, dass Gracie ihn für einen Selbstmörder hielt.«
Freddie hörte ihr ernst zu, das Kinn in die Hand gestützt.»Hm«, sagte er.»Verstehe.«
«Gut. Denn dieser Junge ist in einem derart verwirrten und verletzten Zustand … Gott, mir fehlen die Worte … Ihn hierherzuholen, in diesen Scherbenhaufen … Das können wir ihm doch nicht antun!«
«Erstens«, sagte Freddie, nachdem er einen Moment nachgedacht hatte,»geht er auf eine sehr gute Schule, wo er wieder auf die Beine kommen kann, wenn er dazu bereit ist. Unsere Aufgabe ist es, ihm das klarzumachen. Er wünscht sich eine Mutter und einen Vater, die zu ihm stehen und die an die Möglichkeit glauben, dass man die Scherben seines Lebens einsammeln und er noch einmal von vorne anfangen kann.«
«Das ist ja alles schön und gut, aber wie lange können wir ihm das geben?«
«Wie meinst du das?«
«Ach, komm schon, Freddie, tu doch nicht so«, sagte Manette geduldig.»Du bist ein guter Fang und offenbar sehr begehrt, und früher oder später wird dich eine von deinen Freundinnen angeln. Und dann sind Tim und Gracie schon wieder damit konfrontiert, dass ihre Familie zerbricht. Das können wir ihnen doch nicht zumuten.«
Freddie schaute ihr in die Augen.»Oh. Dann habe ich mich also getäuscht?«
«Inwiefern?«
«In uns. Denn wenn das so ist, geh ich nach oben und zieh meinen Hochzeitsanzug wieder aus.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen.»Freddie … Ach, Freddie … Nein, du hast dich nicht getäuscht.«
«Das heißt also, wir müssen heute zu einer Hochzeit erscheinen, oder? Auf dem nächsten Standesamt, würde ich sagen. Wir brauchen nur noch zwei Trauzeugen. Soll ich Tim wecken?«