Irgendwann hatte Tim begriffen, dass es sich um die Hochzeit von Manette und Freddie handelte. Er hatte beteuert, natürlich habe er nichts dagegen, aber dann hatte er sich von den strahlenden Gesichtern der Brautleute abgewandt und sich gesagt, dass er da nicht hingehörte, denn wenn er sich auf den ganzen Jubel einließ, würde er sich umso beschissener fühlen, wenn ihn seine trostlose Wirklichkeit wieder einholte. Und er hatte es so satt, immer alles hinter sich lassen zu müssen. Er hatte gefragt:»Was soll ich denn anziehen?«, denn in Great Urswick hatte er überhaupt keine Sachen.
«Wir finden schon was Passendes für dich«, hatte Manette geantwortet und sich bei Freddie untergehakt.»Aber zuerst holen wir Gracie ab. Kaveh hat sie zu Hause behalten, weil ich ja schließlich eine Brautjungfer brauche.«
Gracie war völlig aus dem Häuschen» Eine Hochzeit! Eine Hochzeit!«, rief sie, während sie neben Tim herhüpfte.»Wir gehen auf eine Hochzeit, Timmy! Krieg ich ein neues Kleid, Manette? Soll ich eine weiße Strumpfhose anziehen?«
Zu Tim sagte sie:»Du darfst nie wieder weglaufen, hörst du? Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Klar war ich sauer wegen Bella, weil du sie kaputt gemacht hast, aber sie ist nur eine Puppe, das weiß ich ja. Ich hatte sie nur so gern, weil Dad sie mir geschenkt hat, weißt du, und ich durfte sie mir sogar selber aussuchen. Jetzt bin ich einfach nur froh, dass du wieder da bist. Weißt du schon, was du zur Hochzeit anziehst?«
Dann wollte sie von Manette wissen:»Habt ihr viele Gäste eingeladen? Kommen deine Eltern auch? Und deine Schwester? Oder ist das zu anstrengend für die?«
Tim musste lächeln, was seltsam war, denn es war das erste Mal seit mindestens einem Jahr, dass ihm nach Lächeln zumute war. Gracie blühte richtig auf, und er wünschte sich so sehr, dass es dabei blieb.
Sie gingen ins Haus, Tim lief nach oben, um sich etwas zum Anziehen zu holen. Das Haus kam ihm seltsam fremd vor. In seinem Zimmer waren seine Sachen, aber sie gehörten ihm nicht wirklich. Er wohnte hier, und doch wohnte er nicht hier. Er wusste nicht recht, was er davon halten sollte, dass er sich so fühlte.
Er hatte nichts zum Anziehen, das für eine Hochzeit geeignet war, höchstens seine Schuluniform, und die kam natürlich nicht in Frage.
Er überlegte, ob er den nächsten Schritt wagen sollte. Es schien ein Riesenschritt zu sein, der ihn vielleicht total umhauen würde. Aber Manette und Freddie würden heiraten, und letztlich würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als ins Zimmer seines Vaters zu gehen und die schwarzen Müllsäcke mit dessen Sachen unter dem Bett hervorzuziehen, die Kaveh dort versteckt hatte, um sie zu Oxfam zu bringen, bevor seine Braut hier einzog.
Tim probierte eine von Ians Hosen an. Sie war ihm zu weit, aber mit einem Gürtel würde es schon gehen, und in einem Jahr würde sie ihm sowieso passen. Er ging die Sachen durch: Hosen, Hemden, Krawatten, Jacketts, Pullover. Wie gut sein Vater sich gekleidet hatte, dachte Tim. Was sagte ihm das über Ian? Wer war er gewesen? Einfach ein Mann. Ein ganz normaler Mann …
Hastig suchte er sich ein Hemd, eine Krawatte und ein Jackett aus, zog die Sachen an und lief nach unten. Die anderen warteten in der Küche auf ihn, wo Gracie gerade dabei war, einen Zettel für Kaveh an den Schrank zu kleben, in dem Kaveh den Tee aufbewahrte.»Gracie und Timmy gehen zu einer Hochzeit!«stand darauf, und darunter hatte sie ein Smiley gezeichnet.
Auf dem Weg zum Auto sahen sie, wie George Cowley seine letzten Habseligkeiten aus dem Cottage trug. Daniel stand ein bisschen verlegen dabei. Tim fragte sich, warum Dan nicht in der Schule war. Ihre Blicke streiften sich kurz. Gracie rief:»Tschüss, Dan! Wir fahren zu einer Hochzeit, und vielleicht kommen wir nie mehr zurück!«
Sie stiegen ins Auto und machten sich auf den Weg nach Windermere. Erst als sie das Dorf hinter sich gelassen hatten und durch das Lyth Valley kurvten, drehte Manette sich zu ihnen um und fragte:»Was wäre denn, wenn ihr wirklich nie wieder zurückkämt, Gracie? Was würdet ihr denn davon halten, zu uns nach Great Urswick zu ziehen?«
Gracie schaute Tim an. Dann schaute sie Manette mit großen Augen an.»Und mein Trampolin? Kann ich das mitbringen?«
«Dafür finden wir bestimmt einen Platz.«
Gracie seufzte, rückte näher zu Tim und legte den Kopf an seine Schulter.»Das wär schön«, sagte sie.
Tim schloss die Augen und hörte zu, wie Gracie und Manette Pläne schmiedeten. Erst als Freddie vom Gas ging und Manette etwas von Standesamt erwähnte, machte er die Augen wieder auf.
«Können wir vorher noch kurz irgendwo vorbeifahren?«, fragte er.»Ich meine, vor der Hochzeit.«
Selbstverständlich, sagte Manette, und Tim nannte Fred die Adresse des Ladens, wo er Bella zur Reparatur abgegeben hatte. Er müsse nur kurz etwas erledigen, sagte er, sprang aus dem Auto und betrat den Laden. Die Arme und Beine der Puppe waren angenäht worden. Sie war zwar nicht ganz wieder die Alte, aber immerhin.
«Ich dachte, ich sollte die Puppe mit der Post schicken«, sagte die Frau.
«Hab’s mir anders überlegt«, erwiderte Tim.
Im Auto gab Tim seiner Schwester die Puppe. Gracie drückte Bella an sich, rief:»Du hast sie wieder heil gemacht! Du hast sie wieder heil gemacht!«, und wiegte sie sanft, als wäre sie ein lebendes Wesen.
«Ganz wie neu ist sie nicht geworden«, sagte Tim.»Tut mir leid.«
«Ach«, sagte Freddie, als er wieder losfuhr.»Wir beide sind auch nicht wie neu.«
12. November
Als Lynley und Deborah in London eintrafen, war es schon nach Mitternacht. Sie hatten fast während der ganzen Fahrt geschwiegen, obwohl Lynley sie gefragt hatte, ob sie reden wolle. Natürlich war ihm bewusst, dass sie von ihnen beiden die schwerere Last trug, weil sie sich an Alateas Tod mitschuldig fühlte, und er hätte ihr gern wenigstens einen Teil dieser Last genommen. Aber das hatte sie nicht zulassen wollen.»Können wir einfach still sein?«, hatte sie gefragt, und das hatte er akzeptiert. Nur hin und wieder hatte er kurz ihre Hand gestreichelt.
Kurz vor der Straße in Richtung Liverpool und Manchester wurde der Verkehr dichter. In der Nähe von Birmingham stockte der Verkehr wegen verschiedener Baustellen, und vor der Abfahrt auf die A45 nach Northampton gerieten sie wegen eines Unfalls in einen Stau. Schließlich fuhren sie auf eine Raststätte und aßen ausgiebig zu Abend in der Hoffnung, dass der Stau sich auflösen würde. Erst gegen Mitternacht erreichten sie den Kreisverkehr in Cricklewood, und eine halbe Stunde später trafen sie in Chelsea ein.
Als sie vor dem Haus hielten, sah Deborah sofort, dass in Simons Arbeitszimmer im Erdgeschoss noch Licht brannte. Offenbar wartete er auf sie.
Er saß im Sessel und las, und Peach lag vor dem Kaminfeuer auf einem Kissen, das Simon für sie dorthin gelegt hatte. Die Dackelhündin erhob sich träge, als Deborah eintrat, streckte erst die Vorderbeine, dann die Hinterbeine und kam auf sie zu, um sie zu begrüßen.
Simon legte sein Buch weg, einen Roman, wie Deborah verwundert bemerkte. Normalerweise las Simon ausschließlich Sachbücher und Biografien von Menschen, die in der Wildnis überlebt hatten. Sein Lieblingsheld war Shackleton.
Er stand mühsam auf.»Da seid ihr ja endlich«, begrüßte er sie.
«Wir sind ein paarmal in einen Stau geraten«, sagte sie.»Hat Tommy dir alles erzählt?«Er nickte und musterte sie mit seinen grauen Augen. Sah die Last, die sie schier erdrückte.»Er hat mich angerufen, als ihr getankt habt. Es tut mir schrecklich leid.«