Sie hob Peach auf die Arme, die sofort versuchte, ihr das Gesicht abzulecken.»Du hast mit allem recht gehabt«, sagte sie zu Simon, während sie ihre Wange in das seidige Hundefell drückte.»Wie immer.«
«Das bereitet mir keine Genugtuung.«
«Was? Dass du immer recht behältst? Oder dass du diesmal recht hattest?«
«Weder das eine noch das andere. Und ich behalte nicht immer recht. Auf dem Gebiet der Wissenschaft bewege ich mich auf ziemlich sicherem Boden. Aber was Herzensdinge angeht, die Gefühle zwischen dir und mir … Glaub mir, Deborah, ich tappe völlig im Dunkeln.«
«Es war diese Zeitschrift. Ich war total auf die Sache mit der Schwangerschaft fixiert und fühlte mich Alatea so sehr verbunden. Der Gedanke, dass diese Frau ebenso entschlossen war wie ich, dass sie sich ebenso leer fühlte wie ich, hat mich nicht mehr losgelassen. Ich bin schuld an ihrem Tod. Wenn ich ihr nicht solche Angst eingejagt hätte, wenn ich sie in Ruhe gelassen hätte, dann … Ich dachte, sie redete von diesem verrückten Source-Reporter, während sie dachte, der Mann, der sie suchte, hätte mich geschickt.«
«Der Mann, von dem sie glaubte, er würde nach ihr suchen«, korrigierte sie Simon.»Wenn man die Wahrheit so zwanghaft verheimlicht, wie sie es getan hat, dann beherrscht sie irgendwann das ganze Leben. Alles wird nur noch von Misstrauen regiert. Du warst in Cumbria, weil Tommy dich darum gebeten hat, Deborah. Alles andere hat nur mit Alatea selbst zu tun.«
«Wir wissen doch beide, dass das so nicht stimmt«, entgegnete sie.»Ich habe in das, was ich bei Nicholas und Alatea gesehen habe, mehr hineingelegt, weil ich das wollte. Und wir wissen beide, warum ich das wollte. «Sie setzte sich in einen Sessel, und Peach machte es sich auf ihrem Schoß bequem.»Warum schläft sie nicht bei Dad?«, fragte Deborah, während sie die Dackelhündin streichelte.
«Weil ich sie bei mir haben wollte. Ich wollte nicht allein auf dich warten.«
Deborah ließ die Bemerkung auf sich wirken.»Wie seltsam«, sagte sie.»Ich hätte nie gedacht, dass es dir etwas ausmachen könnte, allein zu sein. Du wirkst immer so selbstgenügsam.«
«Wirklich?«
«Ja. Wie sonst? Kühl, rational, selbstbewusst. Ich explodiere immer mal wieder, aber dir passiert das nie. Und jetzt … stehst du vor mir und erwartest irgendetwas von mir. Ich spüre es, dabei habe ich keine Ahnung, was du erwartest …«
«Wirklich nicht?«
«… oder wie ich es dir geben soll.«
Simon setzte sich, aber nicht in den Sessel, in dem er bei ihrer Ankunft gesessen hatte, sondern auf die Lehne ihres Sessels. Deswegen konnte sie sein Gesicht nicht sehen, und er konnte ihres nicht sehen.»Ich muss einfach darüber wegkommen«, sagte sie.»Das weiß ich. Aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Warum komme ich nicht darüber weg, Simon? Warum kann ich etwas, das ich mir so sehr wünsche, nicht einfach loslassen?«
«Vielleicht solltest du es dir weniger wünschen«, sagte er.
«Und wie soll ich das anstellen?«
«Indem du resignierst.«
«Aber das würde bedeuten, dass ich aufgebe. Dass wir aufgeben. Und wie würde ich mich dann fühlen?«
«Verloren«, sagte er.
«Sehnsüchtig«, sagte sie.»So fühlt es sich an. Da ist so eine Sehnsucht in mir, die sich durch nichts stillen lässt. Es ist schrecklich. Deswegen fühle ich mich immer so … leer. Ich weiß, dass ich so auf Dauer nicht leben kann, doch ich weiß auch nicht, wie ich diese Sehnsucht loswerden soll.«
«Vielleicht ist das auch nicht der richtige Weg«, sagte er.»Vielleicht musst du einfach lernen, damit zu leben. Oder du musst begreifen, dass die Sehnsucht und das Stillen der Sehnsucht zwei grundverschiedene Dinge sind. Die nichts miteinander zu tun haben. Das eine ist durch das andere nicht wegzukriegen.«
Deborah dachte darüber nach. Sie überlegte, wie groß der Teil ihres Lebens war, der von dieser unstillbaren Sehnsucht bestimmt wurde. Schließlich sagte sie:»So will ich nicht leben, mein Liebling.«
«Dann versuch, anders zu leben.«
«Und wie soll ich das machen?«
Er streichelte ihr übers Haar.»Vielleicht solltest du dich zuerst einmal ausschlafen.«
Ursprünglich hatte Lynley von Chelsea aus direkt nach Hause fahren wollen. Von St. James bis zu ihm waren es nur fünf Minuten mit dem Auto. Aber als hätte der Healey Elliott einen eigenen Willen, hatte er ihn zu Isabelle gefahren, und noch ehe er so recht wusste, warum er das tat, schloss er ihre Wohnungstür auf.
Es war dunkel in der Wohnung, wie mitten in der Nacht nicht anders zu erwarten. Er ging in die Küche und schaltete die schwache Lampe über der Spüle ein. Und obwohl er sich dafür verabscheute, warf er einen Blick in den Kühlschrank, öffnete sämtliche Schranktüren, überprüfte den Inhalt des Mülleimers und sah im Backofen nach.
In dem Moment ging das Licht an, und Isabelle stand in der Küche. Er hatte sie nicht gehört, so dass er nicht wusste, wie lange sie ihn schon dabei beobachtet hatte, wie er ihre Schränke durchsuchte.
Sie sahen einander schweigend an. Dann warf sie einen Blick auf die offene Ofenklappe, drehte sich um und ging zurück ins Schlafzimmer.
Er folgte ihr. Aber er konnte sich einfach nicht beherrschen. Im Schlafzimmer wanderte sein Blick zuerst zum Nachttisch, von dort zum Boden neben dem Bett, dann zur Kommode an der Wand. Es war, als hätte ihn eine Krankheit befallen.
Sie beobachtete ihn. Offenbar hatte er sie aus dem Schlaf geholt. Aber aus welcher Art von Schlaf? Hatte sie etwas geschluckt, etwas eingenommen? … Plötzlich musste er das unbedingt wissen. So glaubte er zumindest, bis er ihren Gesichtsausdruck wahrnahm: Billigung ebenso wie Resignation lagen in ihrem Blick.
«Es tut mir furchtbar leid«, sagte er.
«Mir auch«, sagte sie.
Er ging zu ihr. Sie trug nur ein dünnes Nachthemd, das sie sich über den Kopf zog. Er legte ihr eine Hand in den Nacken und küsste sie. Sie schmeckte nach Schlaf und nach sonst nichts. Er löste sich von ihr, schaute sie an, küsste sie noch einmal. Sie begann, ihn auszuziehen, und er legte sich zu ihr, während er die Laken herunterriss und auf den Boden warf, so dass nichts mehr zwischen ihnen war.
Und doch stand etwas zwischen ihnen. Auch als ihre Körper sich miteinander vereinigten, auch als sie sich auf ihn setzte und er ihre Brüste, ihre Taille, ihre Hüfte streichelte, auch als sie sich im Rhythmus zusammen bewegten und sich küssten. Es war immer noch da. Es gab kein Entrinnen, dachte er. Der Genuss ihrer Vereinigung war ein einziges Fest. Aber gleichzeitig hatte er das Gefühl, auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen.
Als sie später verschwitzt und befriedigt nebeneinanderlagen, sagte er:»Das war das letzte Mal, nicht wahr?«
«Ja«, sagte sie.»Das wussten wir beide. «Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie:»Es hätte nicht funktioniert, Tommy. Auch wenn ich es wirklich gern gewollt hätte.«
Er nahm ihre Hand, und ihre Finger verschränkten sich.»Das hat nichts mit Helen zu tun«, sagte er.»Das sollst du wissen.«
«Ja, ich weiß. «Sie schaute ihn an, und ihr Haar fiel ihr ins Gesicht. Er schob ihr eine nassgeschwitzte Strähne hinters Ohr.»Tommy, du musst dir eine Frau suchen«, sagte sie.»Nicht als Ersatz für sie, denn welche Frau könnte sie ersetzen? Aber eine, mit der du weitermachen kannst. Denn darum geht es doch im Leben, oder? Ums Weitermachen.«
«Ich wünsche mir das auch«, sagte er.»Anfangs war ich mir nicht sicher, und es wird bestimmt Tage geben, an denen ich rückfällig werde und mir einrede, das Leben ohne Helen sei sinnlos. Aber diese Momente werden vorübergehen. Ich werde das durchstehen und hinter mir lassen. Es kommen auch wieder andere Zeiten.«
Sie streichelte ihm die Wange mit den Knöcheln und sah ihn liebevoll an.»Ich kann nicht sagen, dass ich dich liebe. Es gibt zu viele Dämonen in meinem Leben. Und in deinem.«