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«Ich weiß, was du meinst.«

«Aber ich wünsche dir alles Gute. Das sollst du wissen. Egal, was passiert. Ich wünsche dir alles Gute.«

BELGRAVIA — LONDON

Um halb vier war Lynley endlich zu Hause. Er schloss die Tür zu seinem Haus in Eaton Terrace auf und tastete nach dem Lichtschalter. Sein Blick fiel auf ein Paar Damenhandschuhe, die seit neun Monaten am Fuß der Treppe lagen. Er durchquerte die Eingangshalle, hob die Handschuhe auf, hielt sie sich unter die Nase, um ein letztes Mal ihren Duft einzuatmen, drückte sie sich an die Wange, um das weiche Leder ein letztes Mal zu spüren, und legte sie dann in eine Schublade der Garderobe.

Plötzlich hatte er großen Hunger. Ein seltsames Gefühl. Es war eine Ewigkeit her, dass er zuletzt wirklichen, nagenden Hunger verspürt hatte. Eigentlich hatte er nur noch gegessen, weil er wusste, dass sein Körper das brauchte.

Er ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank, der wie immer gut bestückt war. Er war ein verdammt schlechter Koch, aber Rührei mit Toastbrot würde er schon hinbekommen, ohne das Haus abzufackeln, sagte er sich.

Während er noch dabei war, alle Zutaten und Utensilien zusammenzusuchen, die er für die Zubereitung dieser schlichten Mahlzeit brauchen würde, kam Charlie Denton in Morgenrock und Pantoffeln in die Küche.

«Was machen Sie in meiner Küche, Mylord?«, fragte Denton, während er sich die Brille an seinem Morgenmantel polierte, worauf Lynley wie immer geduldig bemerkte:»Denton …«

«Sorry«, sagte Denton.»Bin noch nicht richtig wach. Was zum Teufel haben Sie in meiner Küche zu suchen, Sir

«Wie Sie sehen, mache ich mir etwas zu essen«, sagte Lynley.

Denton betrachtete die Zutaten, die Lynley auf der Anrichte aufgereiht hatte: Eier, Olivenöl, Marmite, Marmelade, Zucker.»Und was soll das werden?«, wollte er wissen.

«Rührei mit Toastbrot. Allerdings bin ich noch auf der Suche nach dem Brot und der Bratpfanne.«

Denton seufzte.»Lassen Sie mich mal machen. Sie veranstalten sowieso nur eine Riesensauerei, und ich muss hinterher alles in Ordnung bringen. Was hatten Sie denn mit dem Olivenöl vor?«

«Braucht man nicht etwas, um die Eier zu braten?«

«Setzen Sie sich. «Denton machte eine Geste in Richtung Küchentisch.»Lesen Sie die Zeitung von gestern. Gehen Sie Ihre Post durch, die habe ich noch nicht auf Ihren Schreibtisch gelegt. Oder machen Sie sich nützlich und decken Sie den Tisch.«

«Wo ist das Besteck?«

«Herrgott noch mal, setzen Sie sich einfach.«

Lynley tat, wie ihm geheißen. Er nahm sich seine Post vor. Wie immer waren jede Menge Rechnungen dabei. Aber auch ein Brief von seiner Mutter und einer von seiner Tante Augusta, die sich beide standhaft weigerten, E-Mails zu schreiben. Seine Tante hatte bis vor Kurzem nicht einmal ein Handy besessen.

Lynley legte die beiden Briefe beiseite und entfernte ein Gummiband von einem aufgerollten Handzettel.»Was ist das?«, fragte er.

«Keine Ahnung. Das klemmte hinterm Türknauf«, antwortete Denton.»Die sind gestern hier in der Straße verteilt worden. Hatte noch keine Zeit, es mir anzusehen.«

Lynley betrachtete das Flugblatt. Es handelte sich um eine Einladung zu einer Veranstaltung in Earl’s Court, und zwar zu einer ganz besonderen: Es wurde ein Roller Derby angekündigt, die Boudica’s Broads aus Bristol gegen die Electric Magics aus London. The Spills! The Thrills! stand da in großen Lettern. Frauen-Rollschuh-Wettkampf: Werden Sie Zeuge spektakulärer Artistik und hemmungsloser Rempeleien!

Darunter waren die Namen der Sportlerinnen aufgeführt, und Lynley konnte nicht widerstehen, die Liste zu überfliegen und nach einem Namen zu suchen, den wiederzusehen er nie geglaubt hätte: Kickarse Electra, der Kampfname einer Großtierärztin aus dem Zoo von Bristol, einer Frau namens Daidre Trahair, die ab und zu ein Wochenende in Cornwall verbrachte, wo er sie kennengelernt hatte.

Lynley lachte leise in sich hinein. Denton drehte sich kurz um und fragte:»Was ist?«

«Was wissen Sie über Roller Derby?«

«Was zum Teufel soll das sein?«

«Ich finde, das sollten wir in Erfahrung bringen, Charlie. Soll ich uns Eintrittskarten besorgen?«

«Eintrittskarten?«Denton sah Lynley an, als hätte der den Verstand verloren. Dann ließ er sich gegen die Anrichte sinken und griff sich theatralisch an die Stirn.»Mein Gott«, sagte er,»ist es schon so weit gekommen? Soll das heißen, Sie laden mich ein, mit Ihnen auszugehen

Lynley lachte.»Ganz recht.«

«Wo wird das noch hinführen?«

«Keine Ahnung«, sagte Lynley.

CHALK FARM — LONDON

Es war kein leichter Tag für Barbara Havers gewesen, denn sie hatte sich auf zwei Charaktereigenschaften verlassen müssen, die sie eigentlich nicht besaß, nämlich die Fähigkeit, das Offensichtliche zu ignorieren, und die Fähigkeit, Mitgefühl für Unbekannte zu empfinden.

Das Offensichtliche zu ignorieren hätte bedeutet, Lynley nicht darauf anzusprechen, dass zwischen ihm und Superintendent Ardery offenbar irgendetwas vorgefallen war. Denn wenn Barbara sich nicht täuschte, hatten die beiden miteinander Schluss gemacht. Beide wirkten irgendwie traurig, was sie jedoch mit Höflichkeit und Freundlichkeit zu überspielen versuchten, woraus Barbara schloss, dass sie sich in gegenseitigem Einvernehmen getrennt hatten, was sie beruhigend fand. Denn hätte sich nur einer getrennt und der andere darunter gelitten wie ein Hund, hätte sich das katastrophal auf die Arbeitsatmosphäre im Yard ausgewirkt. So konnte wenigstens alles seinen gewohnten Gang gehen, ohne dass sie einander die nächsten Monate mit Sticheleien und bissigen Bemerkungen das Leben zur Hölle machen mussten. Trotzdem dünsteten sie beide eine derartige Niedergeschlagenheit aus, die Barbara dazu veranlasste, ihnen vorerst aus dem Weg zu gehen.

Dass sie nur wenig Mitgefühl für Unbekannte aufzubringen vermochte, hatte jedoch nichts mit Lynley oder Ardery zu tun. Es war nicht damit zu rechnen, dass einer von beiden auf die Idee kommen würde, Barbara sein Herz auszuschütten, wofür sie dankbar war. Weniger dankbar war sie für die Aufgabe, sich noch einmal mit Engracia zu treffen und die junge Spanierin um einen letzten Anruf in Argentinien zu bitten.

Sie bekamen Alateas Bruder Carlos an den Apparat, der mit seiner Kusine Elena María seine Mutter besuchte. Engracia sprach sowohl mit Carlos als auch mit Elena María, während Barbara soufflierte.

Bitte sagen Sie ihnen, dass Alatea ertrunken ist … Ihre Leiche wurde bisher nicht gefunden … das liegt an den besonderen Verhältnissen in der Bucht von Morecambe … am Treibsand … dazu kommt, dass mehrere Flüsse in die Bucht münden … außerdem kam an dem Abend eine Flutwelle … Wir gehen davon aus, dass die Leiche irgendwann angespült wird, und wir wissen auch ungefähr, wo … Ihr Mann wird sie beerdigen … Ja, sie war verheiratet … Ja, sie war sehr glücklich … Sie wollte nur einen Spaziergang machen … Es tut uns schrecklich leid … Ja, ich werde sehen, ob es Fotos gibt … Selbstverständlich … Ja, es war ein Unfall … daran besteht kein Zweifel … ein schrecklicher, tragischer Unfall.

Es spielte keine Rolle, ob es ein Unfall gewesen war oder nicht, dachte Barbara. Alatea war tot, das war, was zählte.

Engracia hatte geweint, während sie der Familie die Nachricht von Alateas Tod überbracht hatte, ein Phänomen, das Barbara nicht zum ersten Mal in Erstaunen versetzt hatte: dass jemand über den Tod eines Menschen weinte, den er nie gekannt hatte, dass jemand Mitgefühl für Menschen empfand, denen er nie begegnen würde. Was löste solche Gefühle aus, fragte sie sich? Warum waren ihr solche Gefühle fremd? Konnte es sein, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte? Oder lag es einfach an dem Beruf, für den sie sich entschieden hatte?