Eigentlich wollte sie über all das gar nicht weiter nachdenken — über Lynleys finstere Stimmung, über Arderys Niedergeschlagenheit, über die Trauer einer argentinischen Familie. Also konzentrierte sie sich auf dem Heimweg auf etwas Erfreuliches, nämlich auf das bevorstehende Abendessen. Sie würde sich ein Steak in die Pfanne hauen, eine Nierenpastete in die Mikrowelle schieben, dazu einen Tetrapak Rotwein öffnen, zum Nachtisch würde sie sich ein Stück Cheesecake gönnen und eine Tasse Kaffee vom Morgen aufwärmen. Anschließend würde sie sich mit Die süßen Verheißungen der Leidenschaft aufs Sofa legen, einem schwülstigen Liebesroman mit viel Herzschmerz, denn sie war gespannt darauf zu erfahren, ob Grey Mannington sich endlich seine Liebe zu Ebony Sinclair eingestehen würde. Und sie würde den elektrischen Kamin anwerfen. Denn es war den ganzen Tag über fürchterlich kalt gewesen, ein Vorgeschmack auf den bevorstehenden Winter. Es würde ein bitterkalter, langer Winter werden, dachte sie. Zeit, die Biberbettwäsche aufzuziehen.
Azhars Auto stand vor dem Haus, aber im Erdgeschoss brannte kein Licht. Wahrscheinlich gönnten ihre Nachbarn sich heute ein Abendessen in einem Restaurant und waren das kurze Stück bis zur Chalk Farm Road oder zum Haverstock Hill zu Fuß gegangen. Vielleicht war alles am Ende doch gut gelaufen, dachte Barbara. Vielleicht saßen Azhar, Hadiyyah und Angelina in friedlicher Eintracht mit Azhars anderen Kindern und seiner nicht von ihm geschiedenen Exfrau im China-Restaurant um die Ecke. Wie eine richtige Großfamilie. Vielleicht verstanden sie sich ja jetzt alle prächtig, vielleicht hatte die Frau ihrem Mann verziehen, dass er sie wegen einer Studentin, die von ihm schwanger war, verlassen hatte, vielleicht hatte Azhar sich ja auch schuldig bekannt; vielleicht hatte die ehemalige Studentin sich als Mutter bewährt und durfte jetzt auch die Rolle der Stiefmutter übernehmen, und sie würden in Zukunft alle zusammenziehen und eine Patchwork-Familie bilden, die heutzutage so sehr in Mode waren … Möglich wäre es, dachte Barbara. Vielleicht waren aber auch allen Schweinen in England über Nacht Flügel gewachsen.
Inzwischen war es eiskalt, und sie beeilte sich, an dem Haus vorbei zu ihrem Bungalow zu gelangen. Es war ziemlich dunkel im Garten, da in zwei der fünf Gartenlaternen die Birnen durchgebrannt waren, und vor ihrem Bungalow war es noch dunkler, denn sie hatte am Morgen vergessen, die Verandabeleuchtung einzuschalten.
Trotzdem sah sie, dass jemand auf der Stufe vor ihrer Tür hockte. Die Knie angezogen, den Kopf auf die Knie gelegt, die Fäuste an die Schläfen gedrückt wiegte die Gestalt sich vor und zurück. Als Barbara näher kam, hob die Gestalt den Kopf. Es war Taymullah Azhar.
«Azhar?«, sagte sie. Er antwortete nicht. Dann bemerkte sie, dass er nur einen Anzug trug, aber weder Mantel noch Handschuhe, und dass er vor Kälte zitterte und mit den Zähnen klapperte.
«Azhar!«, rief sie erschrocken.»Was ist passiert?«
Er schüttelte den Kopf. Als sie ihm auf die Beine half, brachte er mühsam hervor:»Sie sind weg.«
Barbara begriff sofort. Sie legte Azhar einen Arm um die Taille und schloss ihre Tür auf.»Kommen Sie rein«, sagte sie. Sie führte ihn zu einem Stuhl. Der Mann war bis auf die Knochen durchgefroren. Selbst seine Kleider waren ganz steif und fühlten sich an, als wären sie dabei, an seiner Haut festzufrieren. Sie zog eine Decke von ihrem Schlafsofa und legte sie ihm um die Schultern. Sie füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein, dann ging sie zurück zu Azhar und rieb ihm die Hände. Weil ihr nichts Besseres einfiel, wiederholte sie mehrmals seinen Namen. Wenn sie ihn noch einmal gefragt hätte» Was ist passiert?«, hätte er es ihr wahrscheinlich erzählt, doch sie wusste nicht, ob sie es wirklich wissen wollte.
Er hielt den Blick auf sie gerichtet, aber sie merkte, dass er sie eigentlich gar nicht sah, denn er starrte nur ins Leere. Der Wasserkocher schaltete sich ab, Barbara hängte einen Teebeutel in eine Henkeltasse und überbrühte ihn mit kochendem Wasser. Sie stellte die Tasse, ihre Zuckerdose und eine Tüte Milch auf den Tisch. Dann tat sie Milch und Zucker in den Tee, rührte um, hielt ihm die Tasse hin und forderte ihn auf zu trinken.
Seine Hände waren so steifgefroren, dass er die Tasse nicht halten konnte, also hielt sie ihm die Tasse an die Lippen. Er trank einen Schluck, hustete und trank wieder.»Sie hat Hadiyyah mitgenommen«, stieß er hervor.
Es konnte sich nur um einen Irrtum handeln, dachte Barbara. Angelina und Hadiyyah waren doch nur losgefahren, um Azhars Kinder abzuholen. Das war zwar eine ziemlich verrückte Idee, aber es konnte doch höchstens eine Stunde dauern, bis Angelina und Hadiyyah mit den beiden anderen Kindern im Schlepptau zurückkehrten und die Überraschungsparty steigen ließen. Zugleich jedoch wusste Barbara, dass sie sich etwas vormachte. Und dass Angelina sie angelogen hatte.
Dann fiel ihr auf, dass ihr Anrufbeantworter blinkte. Vielleicht, dachte sie, vielleicht …
Sie legte Azhars Hand um die Teetasse und ging zu dem Tischchen, auf dem der Anrufbeantworter stand. Zwei Nachrichten waren aufgezeichnet worden. Sie drückte auf die Abhörtaste. Die erste Stimme, die ertönte, war Angelinas:»Hari wird es heute Abend nicht gut gehen«, sagte sie freundlich.»Wenn Sie vielleicht einmal nach ihm sehen würden. Ich wäre Ihnen sehr dankbar. «Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:»Machen Sie ihm verständlich, dass es nichts Persönliches ist, Barbara … Na ja, einerseits ist es schon etwas Persönliches, andererseits auch wieder nicht. Würden Sie ihm das sagen, Barbara?«Dann hörte sie die zweite Nachricht ab. Azhars aufgeregte Stimme sagte:»Barbara … Barbara … Ihre Pässe … Hadiyyahs Geburtsurkunde …«Er begann zu schluchzen, dann war die Aufzeichnung zu Ende.
Barbara drehte sich zu ihm um. Er saß in sich zusammengesunken am Tisch.»O Gott, Azhar«, sagte sie.»Was hat sie getan?«Das Schlimme war, dass sie genau wusste, was Angelina Upman getan hatte. Und wenn sie rechtzeitig mit Azhar gesprochen und ihm von der»Überraschung «erzählt hätte, dann hätte er vielleicht geahnt, was Angelina vorhatte, und es vielleicht verhindern können.
Barbara setzte sich an den Tisch. Am liebsten hätte sie ihn in den Arm genommen, aber sie fürchtete, wenn sie das tat, würde er wie Glas zerbrechen.»Azhar«, sagte sie.»Hadiyyah hat mir etwas von einer Überraschung erzählt. Sie meinte, sie und ihre Mum würden losfahren, um Ihre anderen Kinder zu holen, die Kinder, die Sie mit … mit Ihrer Ehefrau haben. Ich wusste nicht, was ich Ihnen sagen sollte, Azhar. Ich wollte Hadiyyahs Vertrauen nicht missbrauchen … und … Verdammt, was ist eigentlich los mit mir? Ich hätte etwas sagen sollen. Ich hätte etwas unternehmen sollen. Ich hab doch nicht damit gerechnet, dass …«
«Sie weiß doch gar nicht, wo sie wohnen«, sagte er tonlos.
«Sie muss es irgendwie rausgefunden haben.«
«Wie denn? Sie kennt ja nicht mal ihre Namen. Nicht den meiner Frau, nicht die meiner Kinder. Sie kann unmöglich … Aber Hadiyyah hat wahrscheinlich gedacht … Bestimmt denkt sie …«Er verstummte.
«Wir müssen die Polizei verständigen«, sagte Barbara, obwohl sie wusste, dass es zwecklos war. Denn Hadiyyah war nicht mit einer Fremden fortgegangen. Sie war in Begleitung ihrer Mutter. Und dass Azhar nicht geschieden war, machte die Frage nach dem Sorgerecht kompliziert. Ein Mann und eine Frau und ihre gemeinsame Tochter hatten ein paar Jahre lang einigermaßen friedlich zusammengelebt. Dann war die Mutter ins Ausland gegangen. Zwar war sie irgendwann zurückgekehrt, aber Barbara begriff plötzlich, dass sie das nur getan hatte, um ihre Tochter zu holen: Sie hatte Azhar in falscher Sicherheit gewiegt, ihn glauben lassen, es wäre alles wieder gut, und einen günstigen Moment abgewartet, um mit Hadiyyah spurlos zu verschwinden.
Gott, Angelina hatte sie alle hereingelegt und benutzt, dachte Barbara. Und was würde Hadiyyah denken und fühlen, wenn ihr dämmerte, dass ihre Mutter sie von ihrem Vater fortbrachte, an dem sie hing, und dass sie sie aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen hatte. Wohin würde Angelina wohl mit ihrer Tochter gehen? fragte sich Barbara. Wohin?