«Es regnet«, bemerkte Gracie überflüssigerweise.»Wenn es regnet, kann ich dieses alte Haus erst recht nicht ausstehen. Du auch nicht, Timmy, oder? Es ist furchtbar in dem Haus, alles ist muffig und düster und einfach nur gruselig.«
Niemand sagte etwas dazu. Gracie ließ den Kopf hängen. Ihre Mutter bog in die Straße nach Bryanbarrow ein, als hätte Gracie überhaupt nichts gesagt.
Die Straße war eng hier und wand sich in Haarnadelkurven aufwärts. Schließlich bogen sie in die Straße zum Dorf ein, das unten im Tal lag und eigentlich nicht viel mehr als eine Kreuzung mit einem Rasen in der Mitte zu bieten hatte. Da es hier eine Gaststätte, ein Rathaus, eine Methodistenkapelle und eine anglikanische Kirche gab, war das Dorf eine Art Treffpunkt, allerdings nur abends und sonntags morgens, und die, die sich dann versammelten, hatten nichts Besseres zu tun, als zu beten oder zu saufen.
Gracie begann zu weinen, als sie langsam über die steinerne Brücke fuhren.»Mummy, ich find es schrecklich hier. Mummy, bitte.«
Aber ihre Mutter sagte nichts, und Tim wusste, sie würde auch nichts dazu sagen. Bei der Frage, wo Tim und Gracie Cresswell leben sollten, gab es durchaus Gefühle zu berücksichtigen, allerdings nicht die Gefühle von Tim und Gracie. So war es, und so würde es bleiben, zumindest bis Niamh tot umfiel oder sie einfach aufgab, je nachdem, was zuerst passierte. Und über die erste Möglichkeit hatte Tim viel nachgedacht. Hass konnte einen Menschen umbringen, so schien es ihm. Andererseits hatte der Hass ihn noch nicht umgebracht, also würde der Hass seine Mutter vielleicht auch nicht umbringen.
Im Gegensatz zu vielen Anwesen in Cumbria, die weit außerhalb von Dörfern oder Weilern lagen, stand die Bryan Beck Farm direkt am Dorfrand, und sie bestand aus einem alten elisabethanischen Herrenhaus, einer genauso alten Scheune und einem noch älteren Cottage. Hinter den Gebäuden erstreckten sich die Ländereien, und auf den Weiden grasten Schafe, die jedoch nicht Tims Vater gehörten, sondern einem Bauern, der das Land pachtete. Die Schafe gaben dem Hof» einen authentischen Anstrich«, wie sein Vater gern sagte, und sie standen im Einklang mit der» Tradition im Lake District«, was auch immer er damit meinte. Ian Cresswell war kein verdammter Bauer, und so wie Tim das sah, waren die blöden Schafe besser dran, wenn sein Vater sich von ihnen fernhielt.
Als Niamh in der Einfahrt hielt, schluchzte Gracie bitterlich. Anscheinend dachte sie, wenn sie nur laut genug schluchzte, würde ihre Mutter im letzten Moment wenden und mit ihnen zurück nach Grange-over-Sands fahren, anstatt genau das zu tun, was sie sich vorgenommen hatte, nämlich sie aus dem Auto zu werfen, um ihrem Vater eins auszuwischen, und nach Milthorpe zu düsen, um sich von ihrem dämlichen Freund in der Küche seiner China-Imbissbude durchvögeln zu lassen.
«Mummy! Mummy!«, jammerte Gracie.»Sein Auto steht nicht mal da. Ich trau mich nicht rein, wenn sein Auto nicht dasteht, weil er dann nicht zu Hause ist und …«
«Grace, hör sofort auf damit«, fauchte Niamh.»Du führst dich auf wie eine Zweijährige. Er ist einkaufen gefahren, weiter nichts. Im Haus brennt Licht, und das andere Auto steht da. Ich schätze, du kannst dir denken, was das bedeutet.«
Natürlich sprach sie den Namen nicht aus. Sie hätte hinzufügen können:»Der Mieter eures Vaters ist zu Hause«, mit dieser verächtlichen Betonung, die Bände sprach. Aber damit hätte sie Kaveh Mehrans Existenz anerkannt, und das würde sie niemals tun. Stattdessen sagte sie mit bedeutungsvollem Unterton:»Timothy«, und machte eine Kopfbewegung in Richtung Haus. Das hieß, dass er seine Schwester aus dem Auto zerren und zum Haus bugsieren sollte, da sie nicht vorhatte, das zu übernehmen.
Er stieg aus und warf seinen Rucksack über die niedrige Steinmauer. Dann riss er die Tür auf der Seite auf, wo seine Schwester saß.»Los, raus«, sagte er und packte sie am Arm.
«Nein! Ich will nicht!«, kreischte Gracie und schlug und trat um sich.
Niamh löste Gracies Sicherheitsgurt und sagte:»Hör auf, so ein Theater zu machen. Das ganze Dorf denkt noch, ich bringe dich um.«
«Das ist mir egal!«, schluchzte Gracie.»Ich will mit dir fahren! Mummy!«
«Herrgott noch mal. «Niamh sprang ebenfalls aus dem Auto, aber nicht etwa, um Tim zu helfen. Sie riss Gracies Rucksack vom Rücksitz, öffnete ihn und warf ihn im hohen Bogen über die Steinmauer. Er landete — zum Glück — auf Gracies Trampolin, und der gesamte Inhalt kullerte in den Regen, darunter auch Gracies Lieblingspuppe.
Als Gracie sah, wie ihre Puppe sich überschlug, schrie sie auf. Tim sah seine Mutter wütend an, woraufhin Niamh blaffte:»Was hast du denn von mir erwartet?«Und zu Gracie sagte sie:»Wenn du nicht willst, dass sie kaputtgeht, solltest du sie aufheben.«
Gracie rannte in den Garten, kletterte auf das Trampolin und drückte ihre Puppe an sich. Sie weinte immer noch, und ihre Tränen mischten sich mit dem Regen.»Wie reizend von dir«, sagte Tim zu seiner Mutter.
«Beklag dich bei deinem Vater«, gab Niamh zurück.
Das war ihre Standardantwort auf alles. Beklag dich bei deinem Vater, als würde das, was der getan hatte, jede Gemeinheit von Niamh Cresswell rechtfertigen.
Tim schlug die Autotür zu und wandte sich wortlos ab. Als er in den Garten ging, hörte er hinter sich den Volvo losfahren, wohin auch immer, das war ihm egal. Von ihm aus konnte seine Mutter vögeln, mit wem sie wollte.
Gracie hockte heulend auf dem Trampolin. Hätte es nicht geregnet, wäre sie darauf herumgesprungen bis zur Erschöpfung, denn das tat sie jeden Tag, genauso wie er jeden Tag tat, was er tat, um sich zu erschöpfen.
Er hob seinen Rucksack auf und schaute ihr einen Moment lang zu. Okay, sie war eine Nervensäge, aber sie hatte das alles nicht verdient. Er ging zum Trampolin und nahm ihren Rucksack.»Komm«, sagte er.»Wir gehen rein.«
«Ich nicht«, sagte sie und drückte sich die Puppe an die Brust.»Ich nicht, ich nicht. «Sie da hocken zu sehen, drehte ihm den Magen um.
Er konnte sich nicht an den Namen der Puppe erinnern. Er sagte:»Komm, Gracie. Ich seh nach, ob Spinnen da sind, und ich mach die Spinnweben weg. Du kannst deine … wie heißt sie noch …«
«Bella. Sie heißt Bella«, schniefte Gracie.
«Also Bella-sie-heißt-Bella. Du kannst Bella-sie-heißt-Bella in ihre Wiege legen und ich … ich kämm dir die Haare. Okay? Das hast du doch so gern. Und ich mach dir so eine Frisur, wie du sie so schön findest.«
Gracie schaute ihn an. Sie rieb sich die Augen mit dem Arm. Ihr Haar, auf das sie so stolz war, wurde nass, und schon bald würde es so kraus sein, dass man es nicht mehr bürsten konnte. Sie drehte eine lange Locke um einen Finger.»Machst du mir einen französischen Zopf?«Dabei sah sie ihn so hoffnungsvoll an, dass er ihr den Wunsch nicht abschlagen konnte.
Er seufzte.»Also gut. Einen französischen Zopf. Aber dann musst du jetzt mit reinkommen, sonst mach ich’s nicht.«
«Okay. «Sie rutschte zum Rand des Trampolins und reichte ihm Bella-sie-heißt-Bella. Er stopfte die Puppe kopfüber in Gracies Rucksack und ging zum Haus. Gracie stapfte hinter ihm her und schlurfte mit den Füßen durch den Kies auf dem Weg.
Sie betraten das Haus durch den Seiteneingang, der direkt in die Küche führte. Auf dem primitiven Herd lag ein Braten auf einem Rost, die Soße in der Fettpfanne darunter war schon kalt und fest. Daneben stand ein Topf mit kaltem Gemüse. Auf dem Abtropfgitter welkte ein Salat vor sich hin. Tim und Gracie hatten noch nichts zu Abend gegessen, aber ihr Vater auch nicht, so wie das hier aussah.