«Ian?«
Tim wappnete sich innerlich, als er Kaveh Mehrans Stimme hörte. Sie klang verhalten. Vielleicht ein bisschen verkrampft?
«Nein, wir sind’s«, sagte Tim.
Stille. Dann:»Timothy? Gracie?«Aus dem Kaminzimmer war ein Geräusch zu hören, etwas wurde über die Steinfliesen auf den Teppich geschoben, dann ein Fluchen» Verdammter Mist!«. Wahrscheinlich hatten sie sich gestritten, dachte Tim, und plötzlich überkam ihn ein Hochgefühl, während er sich ausmalte, wie sein Dad und Kaveh mit Messern aufeinander losgegangen waren, und jetzt war alles voller Blut. Das wäre doch mal was! Er ging zum Kaminzimmer, gefolgt von Gracie.
Zu seiner Enttäuschung war alles in Ordnung. Keine umgestürzten Möbel, kein Blut. Das Geräusch war entstanden, als Kaveh den schweren, alten Spieltisch in die Ecke zurückgeschoben hatte, wo er hingehörte. Kaveh wirkte allerdings sehr bedrückt, und das reichte, um Gracie vergessen zu lassen, dass sie selbst aussah wie das heulende Elend. Besorgt lief sie auf den Mann zu.
«Kaveh«, sagte sie,»ist was passiert?«, woraufhin der Blödmann sich aufs Sofa fallen ließ, den Kopf schüttelte und die Hände vors Gesicht schlug.
Gracie setzte sich neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schultern.»Willst du’s mir nicht erzählen?«, sagte sie.»Bitte, erzähl’s mir, Kaveh.«
Aber Kaveh schwieg.
Offensichtlich, dachte Tim, hatten er und sein Dad sich gestritten, und sein Dad war wutschnaubend abgehauen. Recht so, dachte er. Er hoffte, dass es den beiden richtig dreckig ging. Falls sein Dad mit dem Auto von der Straße abkam und in eine Schlucht stürzte, wäre ihm das absolut recht.
«Ist deiner Mummy was passiert?«, fragte Gracie Kaveh. Sie war sich nicht mal zu blöd, dem Typen über sein fettiges Haar zu streicheln.»Oder deinem Dad? Soll ich dir ’ne Tasse Tee machen, Kaveh? Hast du Kopfweh? Oder vielleicht Bauchweh?«
Okay, dachte Tim, Gracie war vorerst beschäftigt. Sie hatte ihre eigenen Sorgen vergessen und würde jetzt die Krankenschwester spielen. Er stellte ihren Rucksack neben der Tür ab, durchquerte das Zimmer und ging durch eine andere Tür in eine kleine, viereckige Diele, von der aus eine Treppe mit abgetretenen Stufen in den ersten Stock führte.
In seinem Zimmer stand sein Laptop auf einem wackeligen Tisch unter dem Fenster, von dem aus man einen Blick auf den Vorgarten und den Dorfanger hatte. Inzwischen war es fast dunkel, und es regnete in Strömen. Der Wind, der heftiger geworden war, fegte das Laub der Ahornbäume unter die Bänke auf dem Rasen und verteilte es von dort aus über die Straße. In den Häusern jenseits des Dorfplatzes brannte Licht, und in dem heruntergekommenen Cottage, in dem George Cowley mit seinem Sohn wohnte, bewegte sich jemand hinter den Gardinen. Tim sah eine Weile zu — anscheinend diskutierten die beiden über irgendetwas, aber was wusste er schon, was sich dort abspielte —, dann schaltete er seinen Computer ein.
Er ging ins Internet. Die Verbindung brauchte ewig, um sich aufzubauen. Es war, wie Wasser beim Gefrieren zuzusehen. Von unten hörte er gedämpft Gracies Stimme. Dann wurde die Stereoanlage eingeschaltet. Wahrscheinlich glaubte sie, Musik würde Kaveh trösten. Tim fragte sich, wie sie auf die Idee kam, denn Musik ging dem Typen am Arsch vorbei.
Endlich. Er rief seine E-Mails ab. Vor allem um eine bestimmte ging es ihm. Er musste unbedingt wissen, wie es weiterging, und das hätte er unmöglich vom Laptop seiner Mutter aus überprüfen können.
Toy4You hatte endlich das Angebot gemacht, auf das Tim gewartet hatte. Er las es sich durch und überlegte. Was Toy4You verlangte, war nicht viel im Vergleich zu dem, was Tim im Gegenzug erwartete. Also tippte er die Nachricht ein, die er schon seit Wochen hatte abschicken wollen, seit er mit Toy4You in Kontakt getreten war.
O.K., aber wenn ich es mache, will ich eine Gegenleistung.
Unwillkürlich musste er lächeln, als er auf» Senden «klickte. Er wusste ganz genau, welche Gegenleistung das sein würde.
Ian Cresswell hatte sich längst abgeregt, als er den See erreichte, denn die Fahrt bis dorthin hatte zwanzig Minuten gedauert. Allerdings hatte er sich nur äußerlich beruhigt; an seinen Gefühlen hatte sich nichts geändert. Und in erster Linie fühlte er sich verraten.
Das Argument» Unsere Lebensumstände sind nicht miteinander vergleichbar «beschwichtigte Ian nicht mehr. Anfangs hatte er das noch akzeptiert. Vor lauter Liebestrunkenheit war es ihm gar nicht in den Sinn gekommen, darüber nachzudenken, ob sein junger Lover dasselbe tun würde, was er von ihm verlangt hatte. Mit Kaveh Mehran zusammen aus dem Haus zu gehen, hatte ihm gereicht. Es hatte gereicht, um seine Frau und seine Kinder zu verlassen, um — das hatte er sich selbst, Kaveh und ihnen erklärt — endlich offen der sein zu können, der er war. Keine heimlichen Fahrten nach Lancaster mehr, kein namenloses Fummeln und Ficken mehr. Damit hatte er sich jahrelang begnügt in der Überzeugung, dass es wichtiger war, andere vor dem zu schützen, was er sich selbst viel zu spät eingestanden hatte. Dass das wichtiger war, als zu sich selbst zu stehen. Und genau das hatte Kaveh ihn gelehrt. Kaveh hatte gesagt:»Entweder sie oder ich«, und dann hatte er an der Tür geklingelt, war ins Haus gekommen und hatte gefragt:»Sagst du’s ihnen, oder soll ich es tun, Ian?«Und anstatt zu entgegnen:»Wer zum Teufel sind Sie, und was haben Sie hier zu suchen?«, hatte Ian sich geoutet und war mit Kaveh gegangen und hatte es Niamh überlassen, den anderen alles zu erklären, falls sie das denn wollte. Aber jetzt fragte er sich, was er sich dabei gedacht hatte, welcher Wahnsinn ihn da geritten hatte, ob er vielleicht tatsächlich geisteskrank war.
Das fragte er sich nicht, weil er Kaveh Mehran nicht mehr liebte oder mit an Irrsinn grenzender Leidenschaft begehrte. Nein, er fragte es sich, weil er keinen Augenblick überlegt hatte, was er den anderen damit angetan hatte. Und er fragte es sich, weil er ebenso wenig darüber nachgedacht hatte, was es heißen könnte, wenn Kaveh nicht bereit war, dasselbe für ihn zu tun, was Ian für ihn getan hatte.
In Ians Augen wäre Kavehs Bekenntnis zu ihm eine ziemlich einfache Angelegenheit und viel weniger zerstörerisch als das, was Ian getan hatte. Okay, Kavehs Eltern waren Ausländer, aber sie waren nur in kultureller und religiöser Hinsicht Fremde. Immerhin lebten sie schon seit mehr als zehn Jahren in Manchester, es war also nicht so, als trieben sie in völlig unbekannten ethnischen Gewässern. Kav und er lebten jetzt schon über ein Jahr zusammen, und es wurde allmählich Zeit, dass Kaveh die Wahrheit über das aussprach, was sie einander bedeuteten. Dass Kaveh diese simple Tatsache nicht begriff, dass er nicht mit seinen Eltern darüber reden konnte … Das war so unfair, dass Ian nur noch schreien wollte.
Und dieses Bedürfnis zu schreien musste er loswerden. Denn er wusste, dass es ihm nichts nützen würde.
Als er ankam, stand das Tor von Ireleth Hall offen, was in der Regel bedeutete, dass Besuch da war. Aber Ian hatte keine Lust, irgendjemandem zu begegnen, und deswegen ging er nicht auf das mittelalterliche Haus zu, das sich über dem See erhob, sondern folgte einem Weg, der direkt zum Ufer führte und zu dem steinernen Bootshaus.
Hier lag sein Skullboot. Es war lang und schmal und lag nur flach im Wasser, und es war gar nicht so einfach, von dem gemauerten Anleger aus ein- und wieder auszusteigen. Noch schwieriger war es jetzt, weil das Bootshaus keine Beleuchtung besaß. Normalerweise reichte das Licht aus, das durch die zum See gelegene Einfahrt hereinfiel, aber heute war der Himmel bewölkt, und zudem war es schon fast dunkel. All das jedoch durfte jetzt keine Rolle spielen, denn Ian musste raus auf den See, die Ruder ins Wasser tauchen, Tempo aufnehmen und sich verausgaben, bis ihm der Schweiß über den Rücken rann und er nur noch die Anstrengung spürte und sonst nichts.