Nach diesem Seitenhieb stand sie auf und ging in ihr Zimmer. Dem Sohn fiel nicht auf, daß die Mundwinkel seines Vaters zuckten und dieser so tat, als kratze er sich, um das nervöse Zucken zu verbergen. Seine blauen Augen hatten einen abwesenden Blick, als beschäftigte ihn ein anderes Problem. Nachdem er lange geschwiegen hatte, sagte er: »Wer mag wohl der Mann gewesen sein? Ob er aus Kafr El Teen ist? Höchstwahrscheinlich. Aber natürlich kann er auch von woanders kommen.«
»Menschen wie Nefissa kennen nichts und niemand außerhalb von Kafr El Teen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Nun ja, du weißt doch, wie unbedarft diese Bauernmädchen sind.«
»Ich glaube nicht, daß Nefissa so unbedarft war. Ich habe noch nie ein Mädchen mit einem derart schamlosen Blick gesehen.«
»Ja, sie war ziemlich vorwitzig. Aber auch der Mann muß reichlich waghalsig sein.«
Hastig sagte der Bürgermeister: »Darum glaube ich eher, daß er nicht aus Kafr El Teen ist. Ich kenne jeden Mann hier und glaube nicht, daß auch nur einer von ihnen genügend Schneid hätte, so etwas zu tun. Bist du nicht auch der Meinung, Tariq?«
Tariq schwieg. Die Gesichter der Männer von Kafr El Teen zogen vor seinem inneren Auge vorbei. Er hörte seinen Vater fragen: »Hast du eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«
Wieder tauchten die Gesichter vor ihm auf, und plötzlich hob sich eins von allen anderen ab, völlig unbeweglich, vielleicht waren es die Augen, die dieses Gesicht von allen anderen Gesichtern unterschieden. Immer neugieriger forschte er in diesem Gesicht, bis eine innere Stimme ihm sagte: »Elwau.« Er wußte nicht, warum es gerade dieses Gesicht war, das sich ihm unter all den anderen aufdrängte, denen er irgendwann einmal begegnet war. Er hatte Elwau und Nefissa nie zusammen gesehen. Elwau wohnte am östlichen Dorfende, Nefissa hingegen auf der gegenüberliegenden Seite, im Westen. Doch sobald er versuchte, sich ernsthaft einen Mann vorzustellen, der mit Nefissa in Zusammenhang gebracht werden konnte, tauchte Elwaus Gesicht vor ihm auf. Er hatte ihm nur einmal gegenübergestanden und ihn hin und wieder in einiger Entfernung mit der Hacke auf der Schulter gehen sehen. Elwau sprach nie mit jemandem und schaute nie in ein Geschäft oder ein Haus. Nie grüßte er als erster, wenn er jemand begegnete, egal, ob es der Polizeichef, der Scheich der Moschee und sogar der Bürgermeister war.
Niemand konnte behaupten, ihn mit Nefissa oder einer anderen Frau aus Kafr El Teen gesehen zu haben. Tag für Tag arbeitete er mit der Hacke auf seinem Feld, sogar am Freitag, wenn alle in der Moschee waren. Nach Sonnenuntergang saß er am Ufer und starrte auf das vorbeifließende Wasser oder die Bäume, die am Horizont aufragten. Ging jemand vorbei, drehte er sich nicht um, und rief ihm jemand den üblichen Gruß zu, antwortete er ruhig »Salam! Salam!«, aber sein Körper rührte sich nicht.
Die Lippen des Jungen öffneten sich leicht, um den Namen Elwau auszusprechen. Hätte ihn jemand gefragt, warum er gerade auf Elwau gekommen war, hätte er keine Antwort gewußt. Er hatte ihm nur einmal gegenübergestanden, aber das hatte gereicht, um in seine Augen zu sehen. Mit einem einzigen Blick hatte er sich davon überzeugt, daß sie sich von den Augen der anderen Männer unterschieden. Sie sahen nie zu Boden, sondern immer stolz geradeaus wie Nefissas Augen. Er konnte sich jetzt gut an den Tag erinnern. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er begriffen, daß der Ausdruck in ihren Augen ein unzertrennbares Band zwischen ihnen darstellte. Er konnte nicht genau sagen, was es war, aber er war überzeugt, daß es zwischen ihnen bestand. Dieses Gefühl hatte ihn auch nicht verlassen, nachdem die Erinnerung an seine Begegnung mit ihnen in die dunklen Regionen des Vergessens versunken war.
Als Elwaus Gesicht vor ihm auftauchte, begriff er, daß gewisse Erinnerungen nie verblassen, nie absterben, selbst wenn sie so unbedeutend waren wie ein Tropfen Wasser im Ozean, selbst wenn sie nur eine Sekunde der Unendlichkeit gedauert hatten. Und als sein Vater seine Frage wiederholte, sagte ihm eine innere Stimme: »Elwau.«
Überrascht riß er die Augen auf, als sein Vater den Namen Elwau aussprach, denn er selbst war noch gar nicht dazu gekommen, so kam es ihm zumindest vor, während er dasaß und grübelte. Und kaum hatte sein Vater den Namen wiederholt, da tauchte das Gesicht, das er nur einmal gesehen hatte, vom Dunkel ins Licht, aus einer verschwommenen Erinnerung wurde lebendige Wirklichkeit. Aus seinem Innern brach eine Stimme hervor, die laut durch das Zimmer hallte: »Elwau?«
Der Bürgermeister wiederholte den Namen noch einmal, als wollte er sich vergewissern, daß die Tatsache jetzt nicht mehr zu widerlegen war: »Elwau.«
Das Eisentor wurde aufgestoßen und ließ drei Männer herein. Scheich Hamzawi, Scheich Zahran und Haj Ismail gingen hintereinander auf den Bürgermeister zu. Niemand weiß, ob sie hörten, wie er den Namen aussprach, aber sie wiederholten in einem Atemzug: »Elwau.« Ihre Stimmen hallten durch den Hof, schwangen sich über die hohe Backsteinmauer, drangen in die dunklen Lehmhütten, und das Wort war in aller Mund, bevor die Kerosinlampen angezündet waren, es verbreitete sich überall, bevor die Sonne untergegangen war und die andere Seite der Erdkugel beschien.
Tariq lehnte sich über das Geländer. Unter der Terrasse floß das karmesinrote Wasser des Nils vorbei. Er beobachtete, wie die Sonne hinter dem fernen Horizont versank und die Kinder am Ufer spielten. Er hörte sie singen, während sie wie wild tanzten und dabei in die Hände klatschten.
Er riß verwundert die Augen auf, als traute er seinen eigenen Ohren nicht. Die Überraschung verschlug ihm fast den Atem, und er wandte sich an seine Mutter, die neben ihm stand, und fragte mit stockender Stimme: »Mutter, war es wirklich Elwau?«
»Woher soll ich das wissen?« antwortete sie, und ihre Stimme klang gereizt. »Warum fragst du nicht deinen Vater, den Bürgermeister?«
VI
Es war ein Freitag, die Sonne stand wie eine Feuerkugel hoch oben am Himmel und brannte auf Kafrawis Kopf. Seine Augen waren in das rote Strahlenmeer getaucht und Schweiß strömte ihm aus allen Poren über seinen Kopf, seinen Rücken und die Schenkel. Warm und klebrig rann er seine Beine entlang und tropfte auf die rissige, schwielige Haut seiner nackten Füße. Er hatte das Gefühl, als hätte er sich naß gemacht. Er fuhr mit der Hand unter seine galabeya und faßte sich an. Er wußte nicht, ob es Schweiß oder Urin war, auch konnte er nicht sagen, ob seine Muskeln erschlafft oder angespannt waren, ob sie ruhten oder sich bewegten. Er spürte nur, daß er die Kontrolle über seine Arme und Beine verloren hatte. Sein Körper schien ihm nicht mehr zu gehören, er war ein riesiger Muskel, der sich aus eigener Kraft zusammenzog und entspannte, und ungläubig beobachtete er, was mit diesem Körper geschah, der doch immer ein Teil von ihm gewesen war. Seine Seele schien seinen Körper verlassen zu haben und in einiger Entfernung zu schweben, oder vielleicht hatte sich eine andere Seele als seine eigene in seinen Körper eingeschlichen.
Er beobachtete, wie seine nackten Füße mit ihrer trockenen, rissigen Haut das Feld verließen, und er wunderte sich darüber. Wie konnten sie allein vom Feld gehen? Er versuchte mit allen Kräften, sie aufzuhalten, und einen Moment lang glaubte er, es sei ihm gelungen, doch gegen seinen Willen trugen ihn seine Beine über das Feld bis zum Stall, dem einzigen Ort, wo ihn die brennenden Sonnenstrahlen zu dieser Tageszeit nicht erreichten.
Es war kein richtiger Stall, sondern ein Unterstand aus Bambusrohr, Palmwedeln und Maisstengeln, die mit Lehm verputzt waren und vier Wände und ein Dach hergaben. Im Sommer suchte der Büffel dort Zuflucht, und im Winter diente er Kafrawi hin und wieder als Nachtquartier.