Sie hörte einen Chor von Stimmen in einem Atemzug antworten: »Gott ist groß, Zakeya! Bete zu Gott, daß er sie gesund zu dir zurückschickt!« Und sie antwortete, ohne sie anzusehen: »Ich habe so oft zu Gott gebetet, ihn angefleht, sich unser zu erbarmen, aber er hat mich nie gehört und nie geantwortet.«
Und die Stimmen riefen in einem Atemzug: »O Gott, vergib ihr, was sie gesagt hat. Vergib uns allen. Du allein bist allmächtig. Ohne dich sind wir hilflos und ohne Kraft.«
X
Zakeya hockte noch immer auf der Erde, an demselben Platz. Sie schloß die Augen, öffnete sie wieder und schloß sie erneut. Bei geschlossenen Augen sah sie das hohe Tor, das vergitterte Fenster und den Mann dahinter mit dem Handkarren voller Kalbsfüße, Kalbsköpfe und blutiger Eingeweide. Er versuchte, sie am Fuß, am Bein zu fassen und wollte sie mit einem großen Messer umbringen. Da riß sie entsetzt die Augen auf und sah die vielen Gesichter über sich. Sie erkannte nur ihre Nichte Zeinab und Om Saber, die mit übergeschlagenen Beinen vor dem Kerosinofen saß, auf dem ein Blechtopf stand. Weiße Rauchwolken, Weihrauchdüfte stiegen in die Luft und vermischten sich mit dem Gewirr von Stimmen und unverständlichen Lauten. Sie beobachtete die Bewegungen und Gesten der versammelten Männer und Frauen, aber sie konnte sich nicht erklären, was sie dort machten. Eine Gruppe von Frauen tanzte im Kreis um den dampfenden Topf. Sie schüttelten ihre Brüste und Hüften im Rhythmus der Trommeln, und ihr langes, wirres Haar wirbelte durch die Luft. Ihre Münder waren weit aufgerissen, und sie wiederholten einen langsamen Gesang: »O Scheich, dir gehorchen die Geister, verscheuche sofort den bösen Geist aus diesem Menschen!« Einige Männer zuckten und schüttelten sich ebenfalls zu den Trommelschlägen. Sie trugen weiße Turbane, deren lange Enden wie Schwänze über ihren Rücken fielen.
Om Saber ging zwischen den Männern und den Frauen hin und her. Sie hatte eine melaya, ein langes Tuch aus schwarzer Seide, um ihren Körper gewickelt. Sie war klein und mager und hatte flache Brüste, aber ein ausladendes Gesäß, das sie wild schüttelte, während sie zwischen den Tanzenden hin und her wirbelte. Von vorn wirkte sie wie ein Mann, von hinten wie eine Frau. Ihre schnellen, kraftvollen Bewegungen ließen sie jung erscheinen, aber ihr Gesicht war alt und zerfurcht. Mit den Männern tanzte sie wie mit den Frauen: sie ließ ihren Körper langsam kreisen und schlug ihnen dabei auf die Hüften. Sie tanzte und lachte, und im nächsten Augenblick schlug sie sich ins Gesicht und schrie herzzerreißend. Schmutzige Witze erzählte sie mit derselben Stimme, mit der sie Verse aus dem Koran rezitierte oder Beschwörungen aussprach. Niemand kritisierte, was sie tat. Für die Dorfbewohner von Kafr El Teen war sie Om Saber, die daya, weder Mann noch Frau, sondern ein asexuelles Wesen, das keine Verwandte und keine Nachkommen hatte. Sie wohnte in einer dunklen Lehmhütte neben der Tänzerin Nafoussa auf einem Gelände in der Nähe der Moschee. Niemand wußte, woher und wann sie ins Dorf gekommen und wo sie geboren war. Niemand konnte sich vorstellen, daß sie einmal sterben würde, denn sie war von morgens bis abends auf den Beinen, ging von Haus zu Haus und half den Frauen bei der Geburt, beschnitt den Mädchen die Klitoris, bohrte ihnen Löcher in die Ohren, streute eine Woche nach der Geburt eines Kindes Salz in der Hütte aus und tröstete die Frauen am vierzigsten Tag ihrer Witwenschaft. Sie war bei allen Festen anwesend, egal, ob gefeiert oder getrauert wurde. Auf Hochzeiten stimmte sie den Freudengesang an und färbte den Mädchen und Frauen die Füße mit Henna. In der Hochzeitsnacht zerriß sie das Hymen der Braut mit dem Finger, und wenn es bereits zerrissen war, verheimlichte sie die Tatsache, indem sie das weiße Handtuch, das für das jungfräuliche Blut vorgesehen war, mit Hühner- oder Kaninchenblut bespritzte. Und wenn Anlaß zur Trauer war, kannte ihr Schmerz keine Grenzen. Sie schlug sich unaufhörlich ins Gesicht und schrie herzzerreißend, stimmte ein Klagelied für den Verstorbenen an, und wenn es eine Frau war, wusch sie die Leiche. Sie war unaufhörlich damit beschäftigt, die Probleme der Frauen zu beseitigen, machte Abtreibungen mit Hilfe eines mouloukheya-Stengels, erwürgte ein Neugeborenes, wenn es sein mußte, oder ließ es verbluten, indem sie es unterließ, die Nabelschnur abzubinden. Die Einwohner von Kafr El Teen kannten sie gut. Sie war Bestandteil aller Haushalte, keiner kam ohne sie aus. Sie arrangierte Hochzeiten, führte Paare zusammen, fand den Mädchen passende Ehemänner und den Männern zukünftige Bräute, rettete den guten Ruf einer Familie und die Tugend junger Frauen und half zu verheimlichen, was ihre Ehre beschmutzen, einen Skandal auslösen, zu einer Katastrophe führen oder als Zeichen der Untreue zwischen Eheleuten angesehen werden konnte. Kranke behandelte sie mit volkstümlichen Heilmethoden, sie beteiligte sich am zar, der Austreibung der bösen Geister, sie tanzte und sang, sie schlachtete Tiere und verspritzte das Blut, ließ Weihrauch abbrennen und fand die Verstecke, in denen die Menschen ihre Habe verborgen hielten. Und wenn sie einmal nichts von alledem tat, ging sie mit einem großen Korb auf dem Kopf von Haus zu Haus und verkaufte Taschentücher, Weihrauch, Kaugummi und Schnupftabak, legte Karten und sagte aus dem Kaffeesatz die Zukunft voraus.
Zakeyas Gesicht war schweißüberströmt, egal, ob sie ausgestreckt auf dem Boden lag, saß oder stand. Sie wechselte wie betäubt von einer Stellung in die andere und wußte nicht, was mit ihr geschah. Die Menschen um sie herum zitterten und schwankten, fielen zu Boden und standen wieder auf, ihre Körper waren schweißgebadet. Die Frauen erkannte sie an den Bewegungen ihrer Brüste und Gesäße, die Männer an den zitternden langen Bärten, die ihre Gesichter einrahmten.
Noch immer strömte ihr der Schweiß aus allen Poren. Wenn sie sich ihn vom Gesicht wischte, war ihre Hand dunkelrot, denn Om Saber bespritzte sie unaufhörlich mit dem Blut eines Hahns, den sie selbst geschlachtet hatte. Dann tauchte einer der Männer seine Hände in das Blut, und Zakeya fühlte, wie sie durch den Ausschnitt ihrer galabeya glitten und ihre Brüste mit dem Blut beschmierten. Danach fielen zahlreiche Hände über sie her, sie berührten sie am ganzen Körper, zwickten und drückten sie und bespritzten sie mit Blut, so daß sie bald völlig durchnäßt war. Irgendwann schob sich eine schwere Hand zwischen ihre Beine und rieb ihre Schenkel mit dem Blut ein. Sie wußte nicht, ob es die Hand einer Frau oder eines Mannes war, die so fest zudrückte. Sie schlug die Hände über ihrem Gesicht zusammen und gab mehrere Schreie von sich, sie schien in Trance zu sein. Die Menschen standen im Kreis um sie und sangen wie rasend: »O Scheich, dir gehorchen die Geister, treibe sofort den bösen Geist aus diesem Menschen aus.« Das Jammern und Schreien mischte sich in ihren Ohren mit den Trommelschlägen und dem wilden Stampfen. Alles schien miteinander zu verschmelzen, Schweiß und Blut, die Gesichter der Männer mit den Gesichtern der Frauen, alle Unterschiede waren verwischt. Sie konnte Om Saber nicht mehr von Scheich Metwalli und Zeinab nicht mehr von der Tänzerin Nafoussa unterscheiden. Zeinab wirkte größer und runder als sonst, sie schwebte und wirbelte wie Nafoussa durch die Luft. Ihr Haar hatte sich gelöst und wirbelte durch die Luft wie Nafoussas Haar, das wirr von ihrem Kopf abstand. Sie warf es mit einer plötzlichen Kopfbewegung nach vorn über ihre spitzen Brüste, dann warf sie den Kopf zurück in den Nacken, so daß ihr Haar über ihre runden, kreisenden Hüften fiel. Ihre galabeya war vom Saum bis zur Taille aufgerissen, und sobald sie mit den Füßen stampfte, war die glatte Haut ihrer Beine und Schenkel zu sehen, und jedesmal gab der Stoff nach und der Schlitz wurde größer. Jetzt waren ihre nackten Brüste zu sehen, und die runden Linien ihres vollen Bauchs, ihr rasend zuckendes Fleisch. Die Körper um sie herum schwankten, taumelten, fielen zu Boden und standen wieder auf. Die Männer und Frauen schlossen sich zu einem Kreis zusammen, der sich endlos drehte. In seiner Mitte tanzten Nafoussa und Scheich Metwalli. Seine Hände, seine Knie und seine Füße berührten ihre Schenkel, ihren Bauch, ihre Brust. Sie riß an ihrem langen Haar und rief aus vollem Hals: »O Scheich, dir gehorchen die Geister, treibe sofort den bösen Geist aus diesem Menschen aus.« Scheich Metwalli und die anderen fielen in ihren Gesang ein und schrien, so laut sie konnten.