Die Dunkelheit hatte sich über alles ausgebreitet, sie war undurchdringlich, doch Zakeya starrte weiter in die Nacht, bis sie plötzlich einen stechenden Schmerz in ihrem Kopf spürte. Sie band das Tuch noch fester, doch der Schmerz ging auf ihren Magen über. Sie tastete mit der Hand nach dem flachen Strohkorb, in dem sie den Essensvorrat für die Woche aufbewahrte. Sie zog ihn zu sich heran, öffnete ihren bis dahin fest verschlossenen Mund und aß etwas trockenes Brot, trockenen Käse und Salzgurken.
Sie schloß erschöpft die Augen. Hin und wieder fiel sie in einen leichten Schlaf, wobei ihr Kopf auf den Knien lag. Die Dunkelheit war so vollkommen, daß sie selbst mit weit geöffneten Augen nichts mehr erkennen konnte. Kafrawi glitt durch das große Holztor und setzte sich neben sie. Sie hatte in seine Richtung gesehen, als er auf sie zuging, und er glaubte, sie hätte ihn bemerkt. Doch obwohl sie hellwach ist, sieht sie nicht den Mann, der er heute ist. Er schrumpft vor ihren Augen zu einem kleinen Jungen, und jetzt sieht sie ihn mit den Augen eines Kindes, wie damals, als sie auf dem staubigen Hof vor der Hütte auf dem Boden kroch und mit offenem Mund nach Luft rang. Staub dringt ihr in Augen, Nase und Mund. Sie setzt sich hin und beginnt, sich mit ihren kleinen Fäusten die Augen zu reiben, aber nicht lange, dann legt sie die Hände in den Schoß und blickt sich nach allen Seiten um, und plötzlich sieht sie die vier schwarzen Hufe auf sich zukommen, einer schwingt drohend über ihrem Kopf wie ein großer Hammer, der mit aller Macht auf sie herabfallen wird. Ein Zucken erfaßt ihren Körper, und sie schreit laut auf. Zwei kräftige Arme greifen nach ihr und heben sie vom Boden auf. Die Arme ihrer Mutter, ihre warme Brust und ihr Geruch haben eine beruhigende Wirkung auf sie, und sie hört auf zu schreien.
Die Erinnerung an die Gesichtszüge ihrer Mutter war verblaßt. Nur ihr Körpergeruch war ihr gegenwärtig geblieben. Er erinnerte sie an den Geruch von Brotteig und Hefe. Sobald sie diesen Geruch wahrnahm, überkam sie ein starkes Glücksgefühl, und ihr Gesicht, das immer hart und verschlossen wirkte, wurde einen Moment lang weich und zärtlich.
Als sie laufen gelernt hatte, durfte sie mit Kafrawi zum Feld gehen. Er zog den Büffel an einem Strick hinter sich her, während sie mit dem Esel, der eine Ladung Dung trug, hinter ihnen herging. Während des ganzen Wegs sagte ihr Bruder kein Wort. Sie hörte seine Stimme nur, wenn er den Büffel oder den Esel mit Rufen antrieb.
Sie erinnerte sich an ihren Vater, wie er auf dem Feld stand, nicht aber an sein Gesicht. Sie sah nur ein paar lange, spindeldürre Beine mit hervorstehenden Kniescheiben, eine in der Taille zusammengebundene galabeya, eine große Hacke, die in seinen kräftigen Händen regelmäßig durch die Luft schwang und niederfiel, und sie hörte das dumpfe, schwerfällige Knarren und Keuchen des Wasserrads, das in ihrem Kopf dröhnte. Wenn es sich plötzlich nicht mehr drehte, ging sie zum Büffel und trieb ihn an, aber er wollte sich nicht von der Stelle rühren. Er stand mit seinem reglosen, schwarzen Kopf da und starrte sie aus seinen dunklen Augen unverwandt an.
Zakeya wollte ihn soeben wieder antreiben, als sie erkannte, daß sie nicht den Büffel, sondern Kafrawi vor sich hatte. Er sah ihr ähnlich, denn er hatte dieselben ausgeprägten Gesichtszüge wie sie, dieselben großen schwarzen zornerfüllten Augen, doch Kafrawis Blick war unterwürfig und in den Zorn mischte sich Verzweiflung.
Er saß mit zusammengepreßten Lippen neben ihr, den Rücken an die Lehmwand gelehnt, und seine Augen starrten in die dunkle Straße, bohrten sich durch das Gitter des hohen Eisentors auf der anderen Straßenseite. Er drehte sich zu ihr, seine Lippen öffneten sich und er flüsterte mit heiserer Stimme:
»Das Mädchen ist verschwunden, Zakeya. Sie ist fort.«
»Fort?« fragte sie gequält.
»Ja, fort. Ich kann sie nirgendwo im Dorf finden.«
Er war verzweifelt. Sie sah ihn mit ihren großen schwarzen Augen an. Er hielt ihrem Blick stand, aber in seinen Augen lag tiefe Hoffnungslosigkeit.
»Nefissa ist in ganz Kafr El Teen nicht zu finden, Zakeya«, sagte er. »Es ist, als wäre sie vom Erdboden verschluckt. Sie wird nie wieder zurückkommen.«
Er stützte seinen Kopf in die Hände und sagte fast weinend: »Sie ist fort, Zakeya. O mein Gott!«
Zakeya wandte den Blick von ihm ab und sah auf die Straße, dann flüsterte sie mit mechanischer, trauriger Stimme: »Wir haben sie verloren, so wie wir Galal verloren haben.«
Er sah hoch und murmelte: »Galal ist nicht verloren, Zakeya. Er wird bald zu dir zurückkommen.«
»Das sagst du jeden Tag, Kafrawi. Du weißt, daß Galal tot ist, und willst mir einreden, daß er es nicht ist.«
»Niemand hat uns gesagt, daß er tot ist.«
»Viele sind gestorben, warum nicht auch er?«
»Aber viele sind zurückgekommen. Hab Geduld und bete zu Allah, daß er ihn gesund zu uns zurückschickt.«
»Ich habe so oft gebetet, so oft«, sagte sie mit erstickter Stimme.
»Bete weiter, Zakeya. Bete zu Allah, daß er und Nefissa gesund zu uns zurückkommen. Wohin mag das Mädchen bloß gegangen sein? Wohin?«
Plötzlich verstummten die Stimmen der beiden gequälten Menschen. Schweigen senkte sich über sie, ein Schweigen, das schwerer wog als der dichte Mantel der Dunkelheit, der sie einhüllte. Ihre Augen starrten unverändert in die grenzenlose Nacht, und keiner von beiden rührte sich. Sie blieben nebeneinander sitzen, unbeweglich wie die im Dunkel verborgenen Lehmhütten.
II
Das hohe Eisentor wurde langsam aufgeschwungen, und der Bürgermeister von Kafr El Teen trat heraus. Er war groß, hatte breite, muskulöse Schultern und ein flächiges, fast eckiges Gesicht. Die obere Hälfte hatte er von seiner Mutter: weiches, seidiges Haar und tiefblaue Augen unter einer gewölbten, hohen Stirn. Die untere Hälfte sah seinem Vater ähnlich, der von der Oberschicht im Süden des Landes abstammte: ein dichter, schwarzer Bart, der von einer groben Nase überragt wurde, ein weicher, voller Mund, der mehr Gier als Sinnlichkeit verriet. Er hatte den hochmütigen, arroganten Blick eines englischen Gentleman, der gewöhnt ist, zu befehlen. Wie die Bauern Oberägyptens hatte er eine rauhe, heisere Stimme, in der jedoch Weichheit und Zurückhaltung mitschwangen und der es an der Aggressivität fehlte, die aus den Stimmen von Männern herauszuhören ist, die in ehemaligen Kolonien wie Ägypten und Indien jahrelang unterdrückt und eingeschüchtert wurden.
In einen dunklen, bodenlangen Umhang gehüllt ging er mit langsamen Schritten voran, gefolgt vom Chef der Dorfpolizei und dem Scheich der Moschee. Sie sahen die zwei Schatten, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Dunkeln hockten. Die Gesichter konnten sie nicht erkennen, aber alle drei Männer wußten, daß es Kafrawi und seine Schwester Zakeya waren, denn diese hatten die Angewohnheit, stundenlang nebeneinander zu sitzen, ohne ein einziges Wort zu wechseln. War nur ein Schatten zu sehen, so bedeutete das, daß Kafrawi auf dem Feld geblieben war und bis Sonnenaufgang arbeiten würde.
Um diese Tageszeit gingen sie wie immer zum Abendgebet in die naheliegende Moschee. Anschließend setzten sie sich im Haus des Bürgermeisters auf die Terrasse über dem Nil, oder sie schlenderten zum Geschäft von Haj Ismail, dem Dorfbarbier. Dort saßen sie, rauchten und plauderten und nahmen abwechselnd einen Zug aus dem langen Bambusrohr der Wasserpfeife.
Doch diesmal wollte der Bürgermeister keine Wasserpfeife rauchen. Er holte eine Zigarre aus einer Seitentasche, biß das Ende ab, zündete sie mit einem Streichholz an und begann zu rauchen, während die anderen ihm zusahen. Haj Ismail erkannte an der gerunzelten Stirn des Bürgermeisters, daß er keineswegs guter Laune war. Daher verschwand er in seinem Geschäft und kam einen Augenblick später zurück, schlich sich an ihn heran und wollte ihm ein Stück Haschisch in die Hand drücken, aber der Bürgermeister schob ihn fort und sagte: »Nein, heute abend nicht.«