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Scheich Hamzawi betrachtete die ihm zugewandte Gesichtshälfte erstaunt und verwirrt. Wie kam es, daß sich diese Seite von der anderen unterschied, auf die das Licht noch nicht fiel, und was war aus den ihm so vertrauten Gesichtszügen geworden? Wodurch unterschieden sich die beiden Hälften? Er war sicher, daß das Gesicht, das ihm das Morgenlicht offenbarte, nicht das Gesicht seiner Frau Fatheya war, denn es ähnelte ihr überhaupt nicht, obwohl es ihre Nase war, ihr Hals und ihre Brust, aber es war eine auffällige Veränderung mit ihr vorgegangen, die er sich nicht erklären konnte. Er zweifelte keinen Moment daran, daß die Frau, die neben ihm lag, seine Ehefrau Fatheya war. Davon war er ebenso überzeugt wie von der Existenz Allahs. Und diese Überzeugung machte seine Verwirrung noch größer.

Seinem Gesicht war in diesem Augenblick anzusehen, daß er sich keiner Sache mehr sicher war. Er starrte vor sich hin, und in seinem Auge schien ein kleiner Muskel zu zucken. Das Morgenlicht fiel durch das Fenster auf sein leichenblasses Gesicht und warf einen langen Schatten, der wie ein zweites Gesicht aussah. Das obere war sein wahres Gesicht, das jeder in Kafr El Teen kannte. Doch das untere kannte keiner, denn so ein Gesicht hatte in Kafr El Teen noch nie jemand gesehen. Es war weder das Gesicht eines Menschen noch das eines Geistes. Es hätte einem Engel oder einem Teufel, vielleicht sogar Allah gehören können, wenn man voraussetzte, daß irgend jemand Allah bereits gesehen hatte und ihn wiedererkennen würde.

Und doch fühlte sich Scheich Hamzawi, während er dalag, weiter von Gott entfernt denn je. Es gab Momente, in denen er Allah nahe war, vor allem beim Freitagsgebet, wenn alle Männer des Dorfes, auch der Bürgermeister, völlig unbeweglich hinter ihm standen und darauf warteten, daß er ihnen ein Zeichen gab, damit sie sich rühren, die Lippen bewegen und die Koranverse rezitieren durften.

In solchen Momenten glaubte er Allah näher zu sein als die meisten anderen Männer, den Bürgermeister eingeschlossen. Dann überkam ihn ein seltenes Glücksgefühl, das er nur als Kind gekannt hatte, wenn er mit Steinen nach anderen Kindern warf und beobachtete, wie sie erschrocken davonliefen. Wenn er beim Gebet aufstand, kniete oder sich hinsetzte, ließ er sich absichtlich Zeit. Hin und wieder schaute er sich kurz um und warf einen Blick auf den Bürgermeister und die hinter ihm versammelten Männer, die ehrfurchtsvoll auf die geringste Bewegung seines Kopfes, seiner Hand oder auch nur seines kleinen Fingers warteten.

Doch er mochte sich noch so viel Zeit lassen und das Gebet noch so langsam sprechen, es war in wenigen Minuten vorbei, und dann verließen ihn die Männer und gingen in alle Richtungen auseinander. Manche traten ihm sogar auf die Füße, wenn sie hinter dem Bürgermeister herliefen, ein Blatt Papier in den Händen, auf das in einer Ecke die obligatorische Steuermarke geklebt war und auf dem sie eine Bitte oder Klage verfaßt hatten. Dann schimpfte er leise über die »gottlosen Halunken«, die keinen Respekt vor Allah hatten und weltlichen Dingen nachliefen, statt an ihr zukünftiges Leben zu denken. Er ging nach Hause, eine einsame Gestalt, die mit dem Stock auf der Erde tappte und die gelbe Gebetskette in der zitternden Hand schwenkte. Seine Hände zitterten noch mehr, wenn er seine Frau sah. Er rief sie mit fordernder, kehliger Stimme zu sich, wollte männlicher und rauher wirken als sonst, er hustete und räusperte sich mehrmals hintereinander, damit die Nachbarn hörten, daß Fatheyas Mann, der Herr des Hauses, zurück war.

»Du bist taub und blind, seit das unselige Kind in unserem Haus ist. Es nimmt deine ganze Zeit in Anspruch, du kümmerst dich um nichts anderes mehr, und dabei ist es ein Kind der Sünde. Ich habe mich seiner erbarmt und es aufgenommen, doch manchmal wünschte ich, es wäre dort draußen gestorben. Seit diese unselige Kreatur, dieses Kind der Unzucht und der Sünde, in unserem Haus ist, kommt ein Unglück nach dem anderen. Die Leute in Kafr El Teen mißbilligen, daß ich es aufgenommen habe, die Zungen stehen nicht still, und ich werde nicht mehr so geachtet wie früher. Sogar meine Freunde haben mich im Stich gelassen, und der Bürgermeister lädt mich nicht mehr ein, den Abend mit ihm zu verbringen. Er hat mir mehrmals geraten, das Kind in ein Heim für uneheliche Kinder zu geben. Ich habe es ihm versprochen, aber du weigerst dich nach wie vor. Ich verstehe nicht, warum du so sehr an diesem unseligen Kind hängst.«

Seine Stimme verebbte, sobald er diese Frage gestellt hatte. Er begriff nicht, warum sie dieses Kind so sehr in ihr Herz geschlossen hatte. Und wieder begann die Gebetskette in seinen Händen zu zittern, als wüßte er die Antwort bereits und wollte sich das nicht eingestehen. Aber es war ein Wissen ohne Gewißheit, ein dunkler Verdacht, so wie jemand sich einer Sache gleichzeitig sicher sein und an ihr zweifeln kann. Das Wissen und der Zweifel ließen ihn frösteln, es war, als wäre ein eisiger Windstoß zusammen mit dem frühen Morgenlicht durch das Fenster gedrungen. Er blickte in Fatheyas Gesicht, auf ihren Hals und die weichen, runden Brüste, an die sich das Kind klammerte. Und wieder stieg die Frage in ihm auf, kalt und glatt wie eine Schlange: »Wie ist es möglich, daß sie Milch hat, obwohl sie mit dem Kind nicht schwanger war und es nicht geboren hat?« Er hatte diese Frage nicht als erster gestellt, sondern irgend jemand hatte sie an ihn gerichtet, wer, das wußte er nicht mehr. Und er war sicher gewesen, daß es eine Frage war. Aber es konnte auch nur eine beiläufige Bemerkung im Flüsterton gewesen sein. Und das Flüstern war wie ein Stich in sein Herz gewesen. »Stillt Fatheya das Kind?« Er wollte das bestreiten, denn er hatte es nicht an ihrer Brust saugen sehen. Sie kaufte jeden Morgen Büffelmilch für das Kind. Aber die flüsternde Stimme fragte beharrlich weiter, mit einer Gewißheit, die keinen Widerspruch duldete.

Wenn Scheich Hamzawi durch die Straßen ging und an einer Menschengruppe vorbeikam, hörte er dieses Flüstern, sobald sie die Köpfe zusammensteckten. Er grüßte sie feierlich: »Friede sei mit euch!«, aber einige antworteten nicht einmal. Wenn er an Haj Ismails Geschäft vorbeiging, vor dem der Polizeichef, der Dorfbarbier und andere Männer im Kreis um den Bürgermeister saßen, sagte er mit lauter Stimme: »Friede sei mit euch!« Es folgte ein kurzes Schweigen, bevor jemand mit leiser, kalter, beiläufiger Stimme antwortete: »Und Friede sei mit dir!« Es war nicht der Bürgermeister, der antwortete, auch nicht der Dorfbarbier, sondern jemand anders. Niemand forderte ihn auf, sich zu ihnen zu setzen. Er ging mit gesenktem Kopf nach Hause, wo er Fatheya mit dem Kind in den Armen antraf. Er fühlte den starken Drang, es ihr zu entreißen und aus dem Fenster zu werfen, aber er warf dem Kind nur einen finsteren Blick zu, als wäre es ein starker, unbesiegbarer Feind.

Eines Nachts blieb er wach, bis Fatheya eingeschlafen war. Auf Zehenspitzen schlich er zu dem Kind, das neben ihr lag, und wollte es hochheben. Obwohl sie schlief, hielt sie es fest umschlungen. Das Kind klammerte sich wie immer an ihre Brust. Fatheya merkte, daß er es ihr wegnehmen wollte und rief: »Du solltest dich schämen, Scheich Hamzawi. Du bist ein Gottesmann. Es ist ein kleines, unschuldiges Kind.«