»So wie du und Cameron«, sagte ich
»Ich habe nie vergleichbare Gefühle für Cameron empfunden.«
»Na gut«, sagte ich. »Aber wir empfinden nun mal so. Wir haben es nicht darauf angelegt, es ist eben einfach passiert.« Ich lächelte Tolliver an und war auf einmal absurd glücklich.
Er lächelte zurück, und der Kreis schloss sich.
»Was also soll ich Dad sagen?«, fragte Mark. Er klang ein wenig verzweifelt. Keine Ahnung, wie Mark sich diese Unterhaltung vorgestellt hatte, aber bestimmt nicht so.
»Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt. Wir möchten ihn nicht sehen«, sagte Tolliver. »Ich möchte nicht, dass er sich bei mir meldet. Wenn er an unsere Webseite mailt, werde ich ihm nicht antworten. Das letzte Jahr dort im Wohnwagen – du kannst von Glück sagen, dass du das nicht miterlebt hast, Mark. Gott sei Dank warst du alt genug, fortzugehen und dein eigenes Leben zu leben. Ich habe dir nie vorgeworfen, dass du weggegangen bist, wenn du das meinst. Selbst wenn du im Wohnwagen geblieben wärst, hättest du nichts an unserer Situation ändern können. Außerdem hast du uns mit Lebensmitteln, Windeln und Geld versorgt, so gut du konntest. Wir waren froh, dass es einer von uns geschafft hatte, ein normales Leben zu führen. Mein Job bei Taco Bell allein hätte nicht ausgereicht.«
»Du wirfst mir also nicht vor, einfach davongelaufen zu sein?« Mark zersäbelte sein Steak, den Blick fest auf die Gabel geheftet.
»Nein, ich glaube vielmehr, dass du dein Leben gerettet hast.« Tolliver legte seine Gabel weg. Sein Gesicht war ernst. »Das glaube ich wirklich. Und Harper glaubt das auch.«
Nicht, dass Mark großen Wert auf meine Meinung gelegt hätte, aber ich nickte. Etwas anderes wäre mir dazu nie eingefallen.
Mark versuchte zu lachen, aber es war ein erbärmlicher Versuch. »Ich hatte nicht vor, so heftige Themen anzuschneiden«, sagte er.
»Dein Dad ist wieder aufgetaucht. Das ist nicht deine Schuld.« Ich lächelte ihn an, um ihn wieder aufzumuntern.
Wohl eher vergeblich. »Hast du deinen Dad wirklich nie besucht?«, fragte er mich. Er kam mit meiner Haltung nicht zurecht.
»Nein«, sagte ich. »Warum sollte ich dich deswegen anlügen?«
»Was hat er denn?«
»Keine Ahnung.«
»Weiß er, dass deine Mutter gestorben ist?«
»Keine Ahnung.«
»Weiß er das mit Cameron?«
Ich dachte einen Moment nach. »Ja, denn einige Reporter haben ihn ausfindig gemacht und mit ihm geredet, als sie vermisst wurde.«
»Und er hat dich nie …«
»Nein. Er saß im Gefängnis. Er hat mir ein paar Briefe geschrieben. Meine Pflegeeltern haben sie mir gegeben. Aber ich habe sie nicht beantwortet. Keine Ahnung, was dann mit ihm passiert ist. Dasselbe wie immer, nehme ich an. Ich habe nie mehr etwas von ihm oder über ihn gehört, bis er krank wurde. Da hat mir der Gefängnisseelsorger geschrieben.«
»Und du hast … einfach nicht darauf geantwortet?«
»Ich habe einfach nicht darauf geantwortet. Tolliver, darf ich von deiner Süßkartoffel probieren?«
»Klar«, sagte er und schob mir seinen Teller hin.
Er bestellt immer eine, wenn wir im Texas Roadhouse essen, und ich bekomme immer einen Bissen davon. Ich schluckte ihn hinunter. Es schmeckte nicht so gut wie sonst, aber das lag vermutlich nicht am Koch, sondern an Mark.
Der schüttelte den Kopf und starrte in seinen Teller. Dann sah er auf und schaute erst Tolliver und dann mich an. »Keine Ahnung, wie ihr das macht«, sagte er. »Wenn Dad etwas von mir will, muss ich darauf reagieren. Er ist mein Vater. Wenn meine Mutter noch lebte, wäre es genauso.«
»Wahrscheinlich sind wir einfach nicht so gut wie du, Mark«, sagte ich. Was sollte ich auch sonst sagen? Er wird dich ausquetschen und aussaugen. Er wird seine Versprechen und dir das Herz brechen.
»Ich nehme nicht an, dass ihr seit unserem letzten Gespräch was von der Polizei gehört habt?«, fragte Mark. »Oder von dieser Detektivin?«
»Du schreckst ja heute vor keinem heiklen Thema zurück, Mark«, meinte ich und musste mich schwer beherrschen, höflich zu bleiben.
»Ich muss euch das fragen. Irgendwann muss es doch Neuigkeiten geben.«
Ich ließ meinen Ärger sausen, denn manchmal denke ich dasselbe. »Es gibt keine Neuigkeiten. Eines Tages werde ich sie finden.« Das sage ich bereits seit Jahren, doch noch war es nicht dazu gekommen. Aber eines Tages, und zwar dann, wenn ich es am wenigsten erwartete – obwohl ich es eigentlich ständig erwartete –, würde ich ihre Nähe spüren, so wie ich die Nähe unzähliger anderer Toter gespürt hatte. Ich würde Cameron finden, und dann würde ich wissen, was ihr an jenem Tag zugestoßen war.
Sie war allein nach Hause gegangen, nachdem sie geholfen hatte, die Highschool für den Abschlussball zu dekorieren. Ich war damals in ein Kind verwandelt worden, für das so etwas nicht mehr infrage kam. Daran war der Blitzschlag schuld. Ich musste mich nach wie vor an mein neues Ich gewöhnen und hatte eine Riesenangst vor meiner neuen, seltsamen Gabe. Ich musste mich noch von den körperlichen Folgen erholen. Ich humpelte und wurde schnell müde. An jenem Tag hatte ich wieder eine meiner furchtbaren Migräneattacken gehabt.
Es war Frühling gewesen, und wir erlebten gerade einen Kälteeinbruch. In der Nacht davor war die Temperatur auf unter vier Grad gefallen. An jenem Nachmittag hatte es nur fünfzehn Grad gehabt. Cameron hatte schwarze Strumpfhosen, einen schwarz-weiß karierten Schottenrock und einen weißen Rolli getragen. Sie sah toll aus. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sie dieses Outfit aus der Altkleidersammlung hatte. Ihr blondes langes Haar glänzte. Meine Schwester Cameron hatte Sommersprossen. Sie hasste sie. Und sie schrieb nur gute Noten.
Während sich Mark und Tolliver unterhielten, versuchte ich mir vorzustellen, wie Cameron jetzt wohl aussah. Wäre sie noch blond? Hätte sie zugenommen? Sie war klein gewesen, kleiner als ich, hatte dünne Arme und Beine und einen eisernen Willen gehabt. Sie war eine gute Leichtathletin gewesen, aber als sie eine Zeitung nach ihrem Verschwinden einen »Leichtathletikstar« genannt hatte, hatten wir nur die Augen verdreht.
Meine Schwester war keine Heilige gewesen. Ich hatte Cameron besser gekannt als alle anderen. Sie war stolz. Sie konnte ein Geheimnis bewahren, bis es nicht mehr anders ging. Sie war klug und lernte fleißig. Manchmal hasste sie unsere Situation, den Verlust unseres Wohlstands, so sehr, dass sie laut schrie. Sie hasste unsere Mutter Laurel. Sie hasste sie leidenschaftlich dafür, uns mit in die Tiefe gerissen zu haben. Gleichzeitig liebte Cameron unsere Mutter.
Matthew, Mutters zweiten Mann, aber x-ten »Freund«, konnte sie nicht ausstehen. Cameron hing der Illusion an, dass unser Vater eines Tages wieder er selbst würde – zu dem Menschen, der er vor seiner Drogensucht gewesen war. Sie glaubte, dass er eines Tages vor dem heruntergekommenen Wohnwagen stehen und uns mitnehmen würde. Dann würden wir wieder in einem richtigen Haus leben, und andere würden unsere Kleider waschen und das Essen kochen. Unser Vater würde zu Lehrersprechstunden kommen und am Abendbrottisch mit uns besprechen, auf welches College wir gehen könnten.
Das war Camerons Fantasie, ihre positive Fantasie. Sie hatte auch düstere Fantasien, ziemlich düstere. Eines Morgens erzählte sie mir auf dem Schulweg, dass sie sich ausgemalt habe, einer der Dealer unserer Mutter würde in unserer Abwesenheit vor dem Wohnwagen auftauchen, unsere Mutter und unseren Stiefvater umbringen. Anschließend würden wir zu einer netten Pflegefamilie kommen, nach der Highschool einen guten Job finden, eine Wohnung mieten und studieren.
So hatten Camerons Träume ausgesehen. Was sie sich wohl für die Zeit danach vorgestellt hatte? Hätten wir alle einen netten, wohlhabenden Mann kennengelernt und würden jetzt glücklich und zufrieden mit ihm zusammen sein bis an unser Lebensende? Oder wären wir für immer in unserer bescheidenen, aber ordentlichen Wohnung geblieben, hätten unsere neuen Sachen getragen (ein wesentlicher Bestandteil von Camerons Träumen) und das gute Essen genossen, das wir inzwischen zubereiten konnten?