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»Schatz?«, sagte Tolliver. Ich drehte mich verblüfft zu ihm um. So hatte er mich noch nie genannt.

»Möchtest du ein Dessert?«, fragte er. Ich merkte, dass die Kellnerin wartete und angestrengt lächelte, um uns zu zeigen, wie unglaublich geduldig sie war.

Ich aß so gut wie nie ein Dessert. »Nein, danke«, sagte ich. Doch zu allem Überfluss musste Mark einen Pie bestellen, und Tolliver leistete ihm Gesellschaft, indem er einen Kaffe nahm. Ich wäre gern gegangen und konnte es kaum erwarten, meinen Erinnerungen zu entfliehen. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her, suchte eine bequemere Position und unterdrückte ein Seufzen.

Als Tolliver und Mark anfingen, über Computer zu reden, konnte ich wieder meinen eigenen Gedanken nachhängen.

Aber alles, woran ich denken konnte, war Cameron.

3

Als wir wieder in unserem Motelzimmer waren, wollten wir beide nicht über Marks dummen Vorschlag reden, wieder Kontakt zu seinem und Tollivers Vater aufzunehmen. Tolliver fuhr den Laptop hoch und besuchte die Fanseite, die meine Aktivitäten vermerkt. Er sieht sie sich regelmäßig an, aus Angst, ich könnte einen verrückten Stalker haben. Ich selbst schaue sie mir nie an, da ich Post von Typen bekomme, die alle möglichen Sachen mit mir machen wollen, was ich gruselig, um nicht zu sagen widerlich finde. Jetzt hatte ich Angst, Matthew könnte sie im selben Moment aufrufen wie Tolliver. Er würde nach Mitteln und Wegen Ausschau halten, seinen Sohn zu finden.

Ein bohrender Schmerz mischte sich in meine Sorgen.

Ich suchte in meiner Medikamententasche nach der ABC-Salbe, um mein rechtes Bein damit einzureiben. Dort spüre ich die Nachwirkungen des Blitzschlags am meisten. Ich zog meine Schuhe und meine Jeans aus, setzte mich aufs Bett und dehnte die schmerzenden Muskeln und Gelenke. Mein rechter Oberschenkel ist von einem Muster aus roten Linien bedeckt – geplatzte Äderchen oder so. Und zwar seitdem ich mit fünfzehn vom Blitz getroffen wurde. Schön ist das nicht.

Ich ließ die Salbe einziehen und versuchte, meine Muskeln zu lockern. Nach einer mehrminütigen Massage ließ der Schmerz etwas nach. Ich lehnte mich zurück in die Kissen und befahl jeder Muskelgruppe, sich nacheinander zu entspannen. Ich schloss die Augen. »Ich bin lieber draußen in einem Schneesturm, als mich mit Iona und Hank zu unterhalten«, sagte ich. »Manchmal finde ich es genauso anstrengend, mit Mark zu reden.«

»Gestern Abend bei Iona …«, sagte Tolliver, verstummte und sprach dann mit großer Vorsicht weiter. »Da hat mich Hank beiseite genommen, als du im Bad warst, und gefragt, ob du schwanger bist.«

»Das ist nicht dein Ernst!«

»Oh doch, und ob. So nach dem Motto: ›Wenn du sie geschwängert hast, heiratest du sie auch, mein Junge. Wer austeilt, muss auch einstecken können.‹«

»Na, das sind ja tolle Aussichten, was Ehe und Vaterschaft anbelangt.«

Tolliver lachte. »Nun, derselbe Mann bezeichnet Iona auch als Klotz am Bein.«

»Ob wir nun heiraten oder nicht, ist mir egal«, sagte ich, bevor ich merkte, dass das keine sehr taktvolle Formulierung war. »Es ist mir natürlich nicht egal«, schob ich hastig hinterher. »Ich meine, ich liebe dich und möchte einfach nur mit dir zusammen sein. Egal, ob wir nun verheiratet sind oder nicht. Mist, jetzt habe ich mich schon wieder falsch ausgedrückt.«

»Wenn die Zeit dafür gekommen ist, tun wir, was sich gehört«, sagte Tolliver völlig ungerührt.

Anscheinend wollte er tatsächlich heiraten. Warum sagte er es dann nicht einfach? Ich schlug die Hände vors Gesicht, was ein merkwürdiges Gefühl hinterließ, da sie noch von der ABC-Salbe brannten.

Natürlich würde ich ihn heiraten, erst recht, wenn davon unsere Beziehung abhing. Ich würde alles tun, um ihn zu halten.

Das war keine romantische Erkenntnis. Ich lag da und dachte nach, hörte zu, wie Tolliver auf die Tastatur einhackte. Wenn ihm irgendetwas zustößt, kann ich genauso gut sterben, dachte ich. Ich fragte mich, was das wohl über Tolliver aussagte und was über mich.

Es klopfte an unserer Tür. Wir sahen uns verwirrt an. Tolliver schüttelte den Kopf, auch er erwartete niemanden.

Er stand auf und zog den Vorhang ein Stück beiseite. Dann ließ er ihn wieder los. »Es ist Lizzie Joyce«, sagte er. »Zusammen mit ihrer Schwester. Sie heißt Kate, oder?«

»Ja.« Ich war genauso überrascht wie er. »Was soll’s!«, sagte ich. Wir zuckten beide die Achseln.

Da Tolliver beschlossen hatte, dass sie weder bewaffnet noch gefährlich waren, ließ er die Joyce-Schwestern herein. Ich zog meine Jeans wieder an und stand auf, um sie zu begrüßen.

Anscheinend hatten sie noch nie ein Durchschnittsmotel von innen gesehen. Katie und Lizzie musterten den Raum mit beinahe identischen Blicken. Die Schwestern ähnelten sich sehr. Kate war ein wenig kleiner als Lizzie und vielleicht zwei Jahre jünger. Aber sie hatte die gleichen blond gefärbten Haare, die gleichen schmalen braunen Augen und die gleiche schlanke Figur. Beide trugen Jeans, Stiefel und Jacketts. Lizzie hatte ihre Haare zu einem tief sitzenden Pferdeschwanz gebunden, während Katies offen waren. Wenn man alle Ketten, Ohrringe und Ringe zusammennahm, trug jede von ihnen bestimmt Schmuck im Wert von mehreren tausend Dollar. (Nach einem späteren Besuch bei einem Juwelier korrigierte ich diesen Betrag noch nach oben.)

Katie musterte Tolliver mit begierigen Blicken. Was den Rest anging, war sie weitaus weniger begeistert. Das betraf unsere Klamotten, sein Kreuzworträtselheft, seinen aufgeklappten Laptop und seine ordentlich neben dem Koffer platzierten Schuhe.

»Hallo, Ms Joyce«, sagte ich und versuchte, etwas Wärme in meine Stimme zu legen. »Was kann ich für Sie tun?«

»Sie können mir noch einmal erzählen, was Sie auf Mariah Parishs Grab gesehen haben.«

Ich brauchte eine Sekunde, bis es Klick machte. »Sie sprechen von der Pflegerin Ihres Vaters«, sagte ich. »Die mit der Infektion, die im Kindbett starb.«

»Ja. Warum behaupten Sie das? Sie hatte einen Blinddarmdurchbruch«, sagte Lizzie. Sie wirkte leicht aggressiv.

Ach, du meine Güte. Was ging mich das an? »Wenn Sie es so bezeichnen wollen, bitte sehr«, sagte ich. Mir war das egal. Außerdem war ich nicht dafür bezahlt worden, mit Mariah Parish Kontakt aufzunehmen.

»Aber genau das ist passiert«, sagte Katie.

Ich zuckte die Achseln. »Wenn Sie es sagen.«

»Was soll das heißen, ›Wenn Sie es sagen‹? Entweder sie hatte einen Blinddarmdurchbruch oder nicht.« Die Joyce-Schwestern ließen nicht so schnell locker.

»Glauben Sie doch einfach, was Sie wollen. Ich habe Ihnen bereits erzählt, woran sie gestorben ist.«

»Sie war eine gute Frau. Warum sollten Sie so etwas erfinden?«

»Genau. Warum sollte ich?« Und was war eigentlich so schlimm daran, wenn eine Frau ein Kind bekam?

»Wer war der Vater?«, fragte Lizzie genauso schroff, wie sie mich zu Mariahs Tod befragt hatte.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

»Dann …« Lizzie verstummte. Sie war eine Frau, die nur selten um ein Wort verlegen war. Die Situation gefiel ihr ganz und gar nicht. »Warum haben Sie das behauptet?«

Ich musste mich schwer zusammenreißen, nicht die Augen zu verdrehen. »Ich habe es behauptet, weil ich es gesehen habe. Außerdem wollten Sie, dass ich das Grab Ihres Großvaters allein finde«, sagte ich mit gewählten Worten. »Damit Sie etwas bekamen für Ihr Geld, ging ich von Grab zu Grab, genau wie Sie sich das offensichtlich gewünscht hatten.«