»Alles andere, was Sie gesagt haben, stimmt«, sagte Katie.
»Ich weiß.« Erwarteten Sie etwa, dass ich über meine eigene Treffsicherheit staunte?
»Warum haben Sie dann ausgerechnet das erfunden?«
Wären Sie nicht so aufgebracht gewesen, hätte ich mich zu Tode gelangweilt. Mein Bein schmerzte, und ich wollte mich setzen. Andererseits wollte ich sie nicht ermutigen, sich ebenfalls zu setzen, also fühlte ich mich verpflichtet, stehen zu bleiben. »Ich habe es nicht erfunden. Das können Sie mir glauben oder auch nicht. Es ist mir egal.«
»Aber wo ist das Baby?«
»Woher soll ich das wissen?« Meine Geduld war zu Ende.
»Ladies«, sagte Tolliver gerade noch rechtzeitig. »Meine Schwester findet Tote. Das Baby lag nicht in dem von ihr untersuchten Grab. Entweder das Baby lebt oder es ist woanders begraben. Vielleicht war es eine Fehlgeburt.«
»Aber wenn das Kind von meinem Großvater war, ist es erbberechtigt«, sagte Lizzie. Plötzlich verstand ich die Aufgebrachtheit.
Zur Hölle mit ihnen! Ich ließ mich aufs Bett fallen und streckte mein schmerzendes Bein. »Bitte nehmen Sie Platz«, sagte ich. »Wollen Sie eine Cola oder ein Seven-Up?«
Tolliver setzte sich neben mich, damit die Schwestern die beiden Sessel haben konnten. Jede nahm das Getränkeangebot an. Obwohl Katie weiterhin auf den Laptop starrte, um herauszufinden, womit sich Tolliver beschäftigt hatte, wirkten die beiden schon deutlich ruhiger und weniger anklagend. Ich war erleichtert.
»Keiner von uns wusste, dass Mariah schwanger war«, sagte Lizzie. »Deshalb waren wir so schockiert. Wir wussten auch nicht, dass sie einen Freund hatte. Mein Großvater und sie verstanden sich sehr gut, deshalb denken wir jetzt, da könnte noch mehr gewesen sein. Vielleicht aber auch nicht. Wir müssen das wissen! Abgesehen von den rechtlichen und finanziellen Konsequenzen schulden wir das einfach jedem Joyce-Nachwuchs … Wir wollen dieses Kind kennenlernen. Darf ich rauchen?«
»Nein, tut mir leid«, sagte Tolliver.
»Das Baby muss doch irgendwo sein. Es muss eine Geburtsurkunde geben«, sagte ich. »Selbst wenn es tot zur Welt gekommen wäre, müsste es Krankenhausakten geben. Man muss nur wissen, wen und wo man fragen muss. Vielleicht können Sie einen Privatdetektiv anheuern. Jemanden, der leicht an solche Unterlagen herankommt. Ich selbst nehme nur zu Toten Kontakt auf.«
»Das ist eine gute Idee«, sagte Katie. »Kennen Sie da jemanden?«
»Da Sie ohnehin in Garland sind …«, sagte Tolliver. »In Dallas lebt eine Frau, die ich sehr empfehlen kann. Sie heißt Victoria Flores. Sie war mal Polizistin in Texarkana. Noch näher an Ihrer Ranch lebt ein ehemaliger Armeeangehöriger. Ich glaube, er wohnt in Longview. Er heißt Ray Phyfe.«
»In Dallas gibt es viele große Detekteien«, sagte ich, als wäre das schwer herauszufinden.
»Wir wollen keine große Detektei«, sagte Lizzie. »Wir wollen die Sache so privat wie möglich halten.«
Genau die Antwort hatte ich erwartet. Ich hatte mich gewundert, warum sie ausgerechnet uns nach einer Empfehlung fragten. Das Joyce-Imperium, von dem die RJ Ranch nur ein kleiner Teil war, hatte in der Vergangenheit bestimmt schon Detektive beauftragt. Unter normalen Umständen hätten sich die Joyces mit Sicherheit an die ihnen vertraute Detektei gewandt. Und die würde ihnen dann die Vorzugsbehandlung angedeihen lassen, die sie gewohnt waren.
Doch im Moment interessierte mich nicht, was sie wissen und wie sie an diese Informationen herankommen wollten. Ich wollte nur jede Menge Schmerztabletten einnehmen und mich ins Bett verkriechen.
Lizzie sprach mit Tolliver über Victoria Flores, und er gab ihr Victorias Telefonnummer. Der Name rief Erinnerungen wach.
»Sie haben das wirklich gesehen?«, wandte sich Katie direkt an mich. »Sie erfinden das nicht nur, um uns zum Narren zu halten? Und es hat Sie auch niemand dafür bezahlt, uns einen Streich zu spielen?«
»Ich spiele keine Streiche, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen sein sollte. Ich nehme kein Geld für Falschinformationen. Natürlich habe ich das wirklich gesehen. So etwas denkt man sich nicht aus.«
Lizzie hatte sich unseren kleinen Block und den billigen Motel-Kuli neben dem Telefon geschnappt, um sich Victorias Kontaktdaten zu notieren.
»Sie ist neulich umgezogen«, sagte Tolliver. »Aber die Nummer stimmt noch.« Ich sah zu Boden und wollte mir mein Erstaunen nicht anmerken lassen.
Nach weiteren Versicherungen und Wiederholungen von bereits Gesagtem gingen die Joyce-Schwestern. Ob sie wohl in Dallas übernachteten oder gleich wieder zu ihrer Ranch zurückfuhren? Letzteres war eine ziemlich weite Strecke. Wenn sie in der Gegend blieben, würden sie sich bestimmt eine vornehmere Unterkunft suchen, da war ich mir sicher. Wahrscheinlich besaßen sie in Dallas ohnehin eine Wohnung.
»So, so«, sagte ich, nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen und sich Tolliver wieder an den Tisch gesetzt hatte, um am Computer weiterzuarbeiten. »Victoria Flores also.«
Mehr brauchte ich gar nicht zu sagen.
»Ich telefoniere manchmal mit ihr«, sagte Tolliver. »Ab und zu erfährt sie was Neues. Ab und zu entdeckt sie etwas. Sie schickt mir die Rechnung, und ich bezahle sie.«
»Und davon hast du mir nie etwas erzählt, weil …?«
»Weil du dich bloß aufgeregt hättest«, sagte er. »Ich wüsste nicht, was dir das gebracht hätte. Immer, wenn ich dir von ihren Anrufen erzählt habe, hast du dich total aufgeregt. Sie ruft nicht oft an, vielleicht zweimal im Jahr, und ich wollte dir das einfach nicht mehr antun.«
Ich holte tief Luft. Am liebsten hätte ich mich auf ihn gestürzt. Es war schließlich meine Sache, wie ich auf mögliche Nachrichten über meine Schwester reagierte. Es war mein gutes Recht, zu leiden.
Doch dann überdachte ich meine Haltung noch mal. Was hatte es mir denn jemals gebracht? War es mir in meiner Unwissenheit nicht besser ergangen? War ich nicht gelassener und glücklicher gewesen, als ich darauf wartete, Cameron auf meine Art zu finden? Oder war es vielleicht doch in Ordnung, andere aktiv werden zu lassen? Sich den Schmerz zu ersparen, auch wenn das bedeutete, nicht über etwas Bescheid zu wissen, das man als ureigenste Angelegenheit betrachtete?
Vielleicht war die Sache doch komplizierter, als ich dachte.
Jetzt kannte ich wenigstens unser beider Haltung. Vielleicht hatte Tolliver doch recht. Es war auf jeden Fall in Ordnung, dass er so gehandelt hatte.
Irgendwann nickte ich. Er wirkte erleichtert, denn seine Schultern entspannten sich, und er seufzte laut. Er setzte sich aufs Bett, um seine Socken auszuziehen, dann warf er sie in die schmutzige Wäsche, wobei mir einfiel, dass uns das Waschpulver ausging.
Während ich mich bettfertig machte, dachte ich an weitere Banalitäten. Ich las gern Romane von Charlie Huston und Duane Swirczynski. Aber wenn ich das vor dem Schlafengehen tat, bekam ich eine Art Koffeinschub, und den konnte ich heute wirklich nicht gebrauchen. Stattdessen schlug ich ein Rätselheft auf. Ich legte mich mit meiner weichen Schlafanzughose und meinem T-Shirt ins Bett, drehte mich auf den Bauch und vertiefte mich in mein Kreuzworträtsel. Tolliver war darin besser als ich, und ich musste mich zusammenreißen, ihm keine Fragen zu stellen.
Ein weiterer aufregender Abend im Leben der Leichenleserin Harper Connelly, dachte ich und war froh darüber.
4
Am nächsten Nachmittag, einem Sonntag, wollten wir mit Gracie und Mariella eislaufen gehen, aber nicht vor zwei Uhr. Samstagvormittags mussten sie ihre Zimmer aufräumen und Haushaltspflichten erledigen, bevor sie ausgehen durften. Und am Sonntag ging die ganze Familie in die Kirche und aß gemeinsam zu Mittag. So lauteten Ionas eiserne Regeln. Die zugegebenermaßen gar nicht mal so schlecht waren. Ich hatte gejoggt und geduscht und wollte mich gerade anziehen, als Tollivers Handy klingelte. Er war faul und lag noch im Bett, also ging ich dran.