»Hallo, du musst Harper sein.«
Ich erkannte die Stimme. »Ja, Victoria. Tolliver ist noch nicht aufgestanden. Wie geht’s dir so?«
Victorias Urgroßeltern waren Einwanderer gewesen, doch die in Texas geborene und aufgewachsene Victoria hatte keinerlei Akzent. »Wie schön, dich zu hören«, sagte sie. »Über deine Schwester gibt es leider nichts Neues. Ich rufe wegen der Kunden an, die ihr mir geschickt habt. Wegen der Joyces.«
»Sie haben sich schon gemeldet?«
»Die waren sogar schon bei mir im Büro, Schätzchen, und haben mir einen Scheck ausgestellt.«
»Ah, prima. Die Empfehlung hast du allerdings nicht mir zu verdanken. Tolliver hat ihnen deinen Namen und deine Telefonnummer gegeben.«
»Das hat mir Lizzie auch erzählt. Diese Frau ist wirklich eine Texanerin wie aus dem Bilderbuch, was? Und ihre Schwester Kate? Ich glaube, die interessiert sich für deinen Bruder.«
»Er ist nicht mein Bruder«, sagte ich automatisch, obwohl ich ihn meist so nannte. Ich atmete tief durch. »In Wahrheit sind wir verlobt.«
Tolliver kam und warf mir einen warnenden Blick zu.
»Oh … na ja, das ist ja … toll. Ich gratuliere.« Victoria klang nicht sehr entzückt. War sie ebenfalls an Tolliver interessiert?
»Sagt mir Bescheid, wann und wo ihr heiratet, einverstanden?«, sagte Victoria dann, schon etwas fröhlicher.
»So weit im Voraus haben wir noch gar nicht geplant«, sagte ich etwas verwirrt und versuchte, mich wieder zu sammeln. »Willst du kurz mit Tolliver sprechen? Er steht neben mir.« Tolliver schüttelte den Kopf, nahm mir das Telefon aber mit mürrischem Gesicht ab, als Victoria ihn unbedingt sprechen wollte.
»Hallo, Victoria. Nein, ich war schon wach. Ja, wir sind ein Paar. Wir haben allerdings noch kein Hochzeitsdatum festgelegt. Das kommt noch, keine Eile.« Er nickte mir vielsagend zu und sah mir dabei in die Augen.
Ich hab schon verstanden, Tolliver. Bloß keinen Druck. Aber wer hat denn damit angefangen und Iona erzählt, dass wir heiraten? Ich kehrte ihm den Rücken zu und bückte mich, um in meinem Koffer nach Klamotten zu suchen.
Gleich darauf spürte ich, wie mich ein Finger an einem sehr reizvollen Ort streichelte. Ich erstarrte. Sex aus dem Hinterhalt. Mal ganz was Neues. Mein Körper signalisierte Wohlgefallen, also zog ich mich nicht zurück und schlug auch nicht nach Tollivers Hand. Das Streicheln wurde aggressiver, rhythmischer. Oh, oh, oh. Ich zuckte. Dann spürte ich seine Wärme hinter mir. Obwohl er nach wie vor mit Victoria sprach, klang er doch ziemlich abgelenkt.
»Ja … äh … ich ruf dich zurück«, sagte er. »Mein anderes Telefon klingelt gerade.«
Das Handy wurde zugeklappt. Etwas Handfesteres ersetzte die Finger.
»Bist du bereit?«, fragte er heiser.
»Ja«, sagte ich und stützte mich mit beiden Händen an der Wand ab. Dann drang sein nach oben gekrümmter Penis in mich ein, und wir wiegten uns gemeinsam hin und her.
Tolliver ließ nichts anbrennen.
Ich hatte nicht viel Erfahrung gehabt, als wir uns unsere Liebe gestanden. Aber ich lernte viel von ihm, und dieses Abenteuer verschaffte mir einen ganz neuen Einblick in seinen Charakter. Dabei hatte ich geglaubt, dass mich bei ihm so schnell nichts mehr überraschen konnte. Ich hatte mich geirrt.
Ich stieß einen lauten Schrei aus, ein Geräusch, das mich selbst überraschte und das gleich darauf von ihm erwidert wurde.
»Warum, glaubst du, hat Victoria angerufen?«, fragte ich, als ich wieder sprechen konnte. Nachdem wir uns voneinander gelöst hatten, waren wir aufs Bett gefallen und hielten uns eng umschlungen. »Es kommt mir etwas komisch vor, dass sie extra anrief, um sich zu bedanken. Eine Mail oder eine SMS hätten es auch getan.« Ich küsste seinen Hals.
»Sie fand dich schon immer faszinierend«, sagte Tolliver zu meiner großen Überraschung.
»Ach so?«
»Nein, ich glaube nicht, dass sie lesbisch oder bi ist. Aber sie findet deine Gabe und die Sache mit dem Blitz einfach interessant. Vielleicht sogar faszinierend. In den letzten Jahren hat mir Victoria bestimmt Hunderte von Fragen über dich gestellt. Sie wollte wissen, wie du das machst, wie es sich anfühlt, was für körperliche Auswirkungen es hat.
»Mich hat sie nie gefragt.«
»Sie hat mir mal erzählt, dass sie Angst hätte, dir solche Fragen zu stellen, weil du dann vielleicht denkst, dass sie dich für eine Gestörte oder Behinderte hält.«
»So als säße ich im Rollstuhl oder hätte ein riesiges Feuermal im Gesicht? Etwas, wofür ich mich schämen müsste?«
»Ich glaube, sie war nur so feinfühlig, dich nicht verletzen oder in Verlegenheit bringen zu wollen. Meiner Meinung nach begegnet dir Victoria fast mit einer Art Ehrfurcht.« Tolliver klang ein wenig tadelnd, was ich vielleicht auch verdiente. Wenn Victoria sich dermaßen bemüht hatte, mich nicht zu verletzen, sollte ich mich lieber nicht darüber lustig machen.
»Ich wundere mich nur, dass sie nicht direkt zur Sache kam.« Damit wollte ich andeuten, dass Victoria einen Grund gehabt hatte, warum sie mit Tolliver reden wollte und sich eher peripher für mein Problem interessierte.
»Vielleicht hatte sie beides im Kopf«, sagte Tolliver, was mich erst recht misstrauisch machte. »Ich glaube nicht, dass sie sich jemals aufrichtig für mich interessiert hat. Das Hauptinteresse hast du geweckt. Meiner Meinung nach hat Victoria einfach eine Schwäche für Übersinnliches. Und in diese Kategorie fallen auch deine Fähigkeiten.«
»So als würde mir die Jungfrau Maria auf einem Toast erscheinen?«
»So ähnlich.«
»Ha, ha.« Ich wandte den Kopf ab. »Dann soll sie mal mit auf den Friedhof gehen, wenn sie das wirklich so sehr interessiert. Und die Sache aus nächster Nähe beobachten. Sie hat uns in all den Jahren sehr geholfen. Ich hätte nichts dagegen.«
Jetzt war Tolliver an der Reihe, überrascht zu sein. »Gut, ich werde es ihr ausrichten. Ich kann mir vorstellen, dass sie begeistert ist.«
Er fuhr mit seinem Kinn über meinen Scheitel. Ich strich mit dem Daumen über eine seiner flachen Brustwarzen. Er gab einen leisen Lustlaut von sich. Ich wusste, dass ich eigentlich duschen müsste, da wir bald die Mädchen trafen, schob es aber noch ein paar Minuten hinaus. Wir hatten Zeit. Ich versuchte mir vorzustellen, wie uns Victoria Flores auf einen Friedhof begleitete. Am besten, wenn wir gerade keinen Auftrag hatten, wenn ich einen normalen Friedhofsbesuch … Gut, ich weiß, das klingt komisch. Aber wenn ich längere Zeit keinen Auftrag habe, gehe ich auf Friedhöfe, um in Form zu bleiben und meine merkwürdige Gabe zu trainieren.
Victorias Gesellschaft würde sich komisch anfühlen, aber ich ging nicht davon aus, dass mich ihre Anwesenheit stören würde. »Sie kennt sich mit Computern aus, nehme ich an. Das muss man wohl heutzutage, wenn man als Detektiv arbeitet«, sagte ich.
»Redest du immer noch von Victoria? Ich denke schon«, sagte Tolliver. »Sie hat einen Techniker erwähnt, der stundenweise für sie arbeitet.«
Ich lag da und dachte nach, während Tolliver aufstand, duschte und sich anzog.
Plötzlich fand ich Victoria Flores deutlich interessanter. Ich fragte mich, ob sie das vermisste Baby finden würde. Das Baby, von dem wir nicht einmal wussten, ob es überhaupt existierte. Ob Mariah Parish nun ein lebendes Kind zur Welt gebracht hatte oder nicht, sollte mich eigentlich kaltlassen. Aber ich ertappte mich dabei, dass ich den Joyces wünschte, es zu finden. Ich hatte so den Verdacht, dass es nicht von ihrem Großvater war. Andererseits: Wenn die beiden Enkelinnen so schnell zu dem Schluss gekommen waren, dass Richard Joyce ein Kind mit seiner Pflegerin gehabt hatte, war das Baby vielleicht doch von ihm. Aber Lizzie und Katie hatten nicht in dieselbe Richtung geschaut wie ich, nachdem ich ihnen Mariah Parishs Todesursache genannt hatte. Ich hatte ihren Bruder und Lizzies Freund angesehen, die beide verdammt beunruhigt gewirkt hatten. Warum, wusste ich auch nicht und würde es wahrscheinlich niemals erfahren. Aber Victoria hoffentlich schon.