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»Ich kann nicht hellsehen, Iona. Ich wüsste selbst gern, was Matthew will. Aber alles, was ich kann, ist Leichen finden.« Zu spät, ich entdeckte Mariella hinter Ionas Rücken. Sie war soeben aus dem Flur in die Küche gekommen. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Aber das dürfte sie eigentlich nicht so sehr schockieren. Was hatten Iona und Hank dem Kind bloß erzählt? Sie fuhr herum und rannte davon.

Damit war der Tag endgültig verdorben.

»Und, was sagt dir deine Gabe?« Iona konnte wirklich hartnäckig sein.

»Nichts, was uns derzeit weiterhelfen könnte«, erwiderte ich. »Es gibt hier keine Leiche, falls dich das interessiert. Die Nächstgelegene ist so alt, dass sie wahrscheinlich vor der Staatsgründung starb, und sie liegt tief vergraben im Vorgarten deines Nachbarn. Wahrscheinlich ein Indianer. Ich müsste näher herangehen, um mir ganz sicher zu sein.«

Endlich hatte ich sie zum Schweigen gebracht. Meine Tante und mein Onkel starrten mich einfach nur mit offenem Mund an. Aber das half uns auch nicht weiter. »Das hat allerdings nichts damit zu tun, dass Matthew heute auf der Eisbahn aufgetaucht ist«, rief ich ihnen wieder ins Gedächtnis. »Solltet ihr nicht lieber eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirken? Er hat doch schließlich keine Rechte mehr an den Mädchen, oder?«

»Nein, das stimmt«, sagte Hank, der sich schneller erholt hatte als seine Frau. »Wir haben sie adoptiert. Er hat sämtliche Rechte abgetreten.«

»Ich will nicht die Polizei rufen«, sagte Iona. »Wir haben so oft mit der Polizei geredet, dass es uns ein für alle Mal reicht.«

»Wollt ihr, dass er wieder auftaucht? Und den Mädchen erneut einen Schrecken einjagt?«

»Nein! Aber wir hatten genug mit der Polizei zu tun, als deine Schwester entführt wurde! Wir wollen nicht, dass sie hier wieder ein und aus geht.«

Ich konnte gut verstehen, dass sie nichts mit der Polizei zu tun haben wollten. Auch wenn die meisten Gesetzeshüter, die ich kennengelernt habe, auch nur Menschen sind, die versuchen, ihren harten Job zu erledigen und noch dazu schlecht dafür bezahlt werden. Aber abgesehen davon, dass Iona und Hank nicht wollten, dass ihr Haus erneut von Polizeiautos zugeparkt würde, waren meine Schwestern auch so schon ernsthaft beunruhigt. Wenn dann noch Polizei auftauchte, sahen die Mädchen in Matthew eine größere Bedrohung, als er es tatsächlich war. Er hatte schließlich keinen Grund, Mariella und Gracie wehzutun. Vielleicht hatten Iona und Hank doch recht, wenn auch aus den falschen Gründen.

»Dann gibt es nichts, was wir tun können«, sagte Tolliver, der zum selben Schluss gekommen war wie ich. »Wir fahren dann mal.«

»Wie lange bleibt ihr in der Stadt?«, fragte Iona ein wenig verzweifelt. »Habt ihr schon einen neuen Auftrag?«

Sie hatte nie Wert darauf gelegt, dass wir länger blieben. Im Gegenteil, die anderen Male hatte sie es kaum erwarten können, dass wir wieder fuhren.

»Vielleicht noch ein paar Tage«, sagte ich nach einem Blick auf Tolliver. Wir hatten tatsächlich noch keine Pläne, auch wenn sich das jederzeit ändern konnte.

»Gut«, sagte sie und nickte, als hätten wir eine Vereinbarung getroffen. »Wir rufen euch also an, wenn er wieder auftaucht.«

Und was sollten wir dann tun? Ich wollte schon protestieren, als Tolliver sagte: »Einverstanden. Wir werden euch morgen auf jeden Fall anrufen.«

»Ich werde mit dem Schuldirektor reden«, sagte Iona. »Ich hasse es, wenn über uns geredet wird, aber wenigstens die Lehrer der Mädchen sollten wissen, dass Matthew sich hier rumtreibt.«

Ich war erleichtert. Mir fiel auf, dass meine Tante sehr mitgenommen wirkte, und auch Hank sah besorgt aus. Mir fiel wieder ein, dass sie schwanger war. Hank fing meinen Blick auf und wies mit dem Kinn zur Tür. Ich versuchte, mich nicht aufzuregen. Dachte er etwa, wir merkten nicht, dass wir jetzt lieber gehen sollten?

Tolliver sagte: »Gut, bis morgen also. Tschüs, Mädels!«, rief er in den Flur. Nach einer Sekunde sah ich, wie die Mädchen den Kopf aus Mariellas Zimmer steckten, und ich winkte ihnen zu. Sie winkten zurück, wenn auch etwas zögerlich. Sie lächelten nicht.

Wir stiegen schweigend in unseren Wagen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Wir müssen eine Weile bleiben, um sicherzustellen, dass er sie nicht belästigt«, sagte Tolliver, nachdem wir einen Block entfernt waren.

»Aber was sollte ihn davon abhalten, so lange zu warten, bis wir weg sind, um dann wieder aufzutauchen?«

Tolliver schüttelte unwillig den Kopf, als umschwirrte ihn eine Biene. »Nichts kann ihn davon abhalten, sie zu verfolgen, wenn er das will. Ich weiß nicht, was wir tun sollen.«

»Er wird bestimmt warten, bis wir weg sind. Außerdem – wer sind wir schon? Eine Privatarmee? Warum haben wir auf einmal diese Schutzfunktion?«

»Wahrscheinlich halten sie uns für abgeklärter und taffer als sich selbst«, sagte Tolliver nach einigem Nachdenken.

»Nun, damit haben sie recht. Aber was heißt das schon?«

»Er ist mein Vater. Ich fühle mich verpflichtet, etwas zu unternehmen.«

»Das kann ich gut verstehen«, sagte ich, denn taktvoller konnte ich es nicht ausdrücken. »Ich kann auch verstehen, dass du noch ein paar Tage länger bleiben willst. Von mir aus gern. Aber wir können nicht für immer hier bleiben, vor dem Haus zelten und darauf warten, dass sich dein Dad den Mädchen erneut nähert. Es sei denn, er wird wieder verhaftet – und seien wir doch mal ehrlich: Dazu wird es bestimmt kommen, da er wieder Drogen nehmen wird. Wir können nichts dagegen machen, wenn er sie unbedingt sehen will, außer Iona und Hank gehen zur Polizei. Und selbst dann kann die Polizei die Mädchen nicht rund um die Uhr im Auge behalten.«

»Ich weiß.«

Tolliver klang kurz angebunden. Ich machte den Mund zu und verkniff mir den Rest. Auf der übrigen Fahrt zum Motel schwiegen wir.

Wenn es etwas gibt, das mich nervös macht und irritiert, dann Meinungsverschiedenheiten mit meinem Bruder. Ich versuche zwar, Tolliver nicht mehr als meinen Bruder zu bezeichnen, denn das ist irgendwie gruselig. Aber eine alte Gewohnheit gibt man nicht so schnell auf.

Zurück im Motelzimmer, konnte ich mich auf nichts konzentrieren. Ich wollte nicht lesen, und das Fernsehen ist sonntagabends eine einzige Katastrophe, außer man interessiert sich für Sport. Ich schaffte es nicht, mich in mein Kreuzworträtsel zu vertiefen. Ich griff zu unseren Wäschesäcken. »Ich suche einen Waschsalon«, sagte ich und ging. Ich war so schnell draußen, dass ich nicht mehr mitbekam, ob Tolliver etwas darauf erwiderte. Wir brauchten ein wenig Abstand.

Ich erkundigte mich an der Rezeption, und der Angestellte gab mir eine ausgezeichnete Wegbeschreibung zu einem großen, sauberen Salon, etwa anderthalb Kilometer vom Motel entfernt. Wir haben immer einen Vorrat von 25-Cent-Münzen, Waschpulver und Trocknertüchern im Kofferraum. Ich konnte also losziehen.

Im Waschsalon gab es eine Aufsicht, eine ältere Frau mit krisseligen weißen Haaren und einer rundlichen Figur. Sie saß an einem kleinen Tisch, sah auf, als ich hereinkam, und nickte mir anstelle einer Begrüßung zu. Da Wochenende war, war im Salon viel Betrieb. Aber nachdem ich mich umgesehen hatte, entdeckte ich zwei leere Maschinen nebeneinander. Ich fand einen Plastikstuhl und trug ihn dorthin. Nachdem ich die Maschinen gefüllt und angestellt hatte, setzte ich mich und zog mein Buch aus der Tasche.

Jetzt, wo kein grübelnder Tolliver in der Nähe war, konnte ich sehr wohl lesen. Keine Ahnung, warum. Aber es tat gut, Menschen um mich zu haben und bald wieder saubere Kleidung zu besitzen.

Ich war ganz bei mir. Es gab keine Leichen in der Nähe. Einen köstlichen Moment lang war da keinerlei Summen in meinem Kopf.

Von Zeit zu Zeit sah ich mich um, damit ich niemandem im Weg war. Eine etwa gleichaltrige Frau starrte mich an, als ich den Kopf hob und der Schleudergang fast fertig war.

»Sind Sie diese Frau?«, fragte sie. »Sind Sie diese Hellseherin, die Leichen findet?«