»Nein«, erwiderte ich prompt. »Man hat mich schon mehrmals darauf angesprochen, aber ich arbeite im Einkaufszentrum.«
Das sage ich immer, wenn ich in einer städtischen Gegend unterwegs bin. Bisher hat es immer funktioniert. Es gibt immer ein Einkaufszentrum, und es erklärt auch, warum mich der Fragende schon mal irgendwo gesehen hat.
»Welches Einkaufszentrum?«, fragte die Frau. Sie war hübsch, sogar in ihren Freizeitklamotten. Und sie war hartnäckig.
»Tut mir leid«, sagte ich mit dem entsprechenden Lächeln. »Aber ich kenne Sie nicht.« Ich zuckte die Achseln, was in etwa heißen sollte: Sie sind bestimmt ganz in Ordnung, aber ich habe keine Lust, mit Ihnen über meine Privatangelegenheiten zu reden.
Die junge Frau reagierte nicht darauf. »Sie sehen genauso aus wie sie«, sagte sie und lächelte mich an, als müsste ich mich darüber freuen.
»Aha«, sagte ich und zog meine Wäsche aus den Maschinen. Ich hatte mir bereits eines dieser Rollwägelchen geschnappt.
»Wenn Sie es sind, müsste Ihr Bruder auch irgendwo in der Nähe sein«, verkündete die Frau. »Ich würde ihn gern kennenlernen. Er sieht scharf aus.«
»Aber ich bin nicht die, für die Sie mich halten.« Ich rollte meinen Wagen weg, in den ich außer der nassen Wäsche auch noch alles andere geworfen hatte. Ich musste noch so lange bleiben, bis meine Sachen trocken waren. Ich konnte nicht weg. Aber wenn ich etwas nicht wollte, dann mit dieser Frau über mein Leben, meinen Beruf und meinen Tolliver reden.
Die Frau behielt mich die ganze Zeit über im Auge, auch wenn sie mich Gott sei Dank nicht wieder ansprach. Ich gab vor zu lesen, während die Kleidung durch den Trockner wirbelte. Danach gab ich vor, mich ganz auf das Zusammenlegen meiner Sachen zu konzentrieren. Und beschloss, dass sie für mich einfach nicht existierte. Diese Technik hatte in der Vergangenheit jedes Mal funktioniert.
Als ich so weit war, die saubere Wäsche zum Auto bringen zu können, glaubte ich, noch einmal davongekommen zu sein. Aber nein, da kam sie auch schon und folgte mir auf den Parkplatz.
»Sprechen Sie mich nicht noch einmal an«, sagte ich erschöpft und völlig am Ende mit den Nerven.
»Sie sind es!«, sagte sie mit einem selbstgefälligen Nicken.
»Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte ich, stieg in den Wagen und betätigte die Zentralverriegelung. Ich fuhr erst los, als sie wieder im Waschsalon verschwunden war. Hoffentlich waren ihre Sachen in der Zwischenzeit gestohlen worden.
Jetzt konnte ich mir zumindest sicher sein, dass sie mich nicht verfolgte. Trotzdem sah ich ein paarmal in den Rückspiegel, nur um auf Nummer sicher zu gehen. Dabei merkte ich, dass mir tatsächlich ein Wagen folgte. Da es bereits dunkel war, war ich mir nicht ganz sicher. Aber da die Gegend städtisch und gut beleuchtet war, glaubte ich, stets denselben grauen Miata in meinem Rückspiegel zu erkennen. Ich drückte die Kurzwahl für Tolliver.
»Hi«, sagte er.
»Jemand folgt mir.«
»Dann komm sofort hierher. Ich gehe nach draußen und warte auf dich.«
Ich fuhr also direkt zum Motel, und er besetzte schon einmal einen Parkplatz direkt vor unserem Zimmer, um ihn für mich zu reservieren. Ich parkte, sprang aus dem Wagen und rannte ins Zimmer, während Tolliver noch draußen blieb.
Nach einer Minute rief Tolliver meinen Namen. Ich sah durch das Guckloch. Er war nicht allein.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er, klang aber nicht sehr glücklich.
Also machte ich die Tür auf, und er kam mit seinem Vater im Schlepptau herein. Mist!
Tolliver drehte sich zu seinem Vater um und stand jetzt neben mir.
»Was willst du?«, fragte er Matthew. »Warum bist du Harper bis hierher gefolgt?«
»Ich will bloß mit dir reden, mein Sohn.« Matthew sah mich an und versuchte, ein entschuldigendes Gesicht aufzusetzen. »Möglichst unter vier Augen. Das ist eine reine Familienangelegenheit, Harper.«
Er wollte, dass ich mein Motelzimmer verlasse.
»Das geht nicht!«, sagte Tolliver. Er legte den Arm um mich. »Sie ist meine Familie.«
Matthews Augen wanderten von Tolliver zu mir und wieder zurück. »Ich verstehe«, sagte er. »Hör zu, ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich war ein furchtbarer Vater. Ich habe dich und Laurels Kinder im Stich gelassen. Aber was noch viel schlimmer ist: Ich habe unsere gemeinsamen Kinder im Stich gelassen.«
Tolliver und ich standen schweigend da, während sich unsere Körper berührten. Ich musste nicht einmal zu meinem Bruder aufsehen, um zu wissen, wie er sich fühlte. Matthew musste uns nicht erzählen, wen er alles enttäuscht hatte. Wir wussten Bescheid.
Und trotzdem schien er auf eine Reaktion zu warten.
»Das wissen wir bereits«, sagte Tolliver.
»Laurel und ich waren drogensüchtig«, erklärte Matthew. »Das ist keine Entschuldigung dafür, euch so zu vernachlässigen, aber … ein Eingeständnis, nehme ich an. Wir haben schlimme Dinge getan. Ich bitte dich um Vergebung.«
Ich fragte mich, ob das eine Aktion war, zu der sich Matthew im Rahmen eines Entziehungsprogramms verpflichtet hatte oder so was. Wenn ja, hatte er es vollkommen falsch angefangen. Indem man seine Kinder stalkt und mich verfolgt, um an Tolliver heranzukommen, drückt man keinerlei Reue aus.
Nach kurzem Schweigen sagte ich: »Weißt du noch, wie Mariella eines Abends furchtbar krank wurde und wir uns aus dem Wohnwagen schleichen wollten, um sie zum Arzt zu bringen? Weißt du noch, wie du die Tür blockiertest und uns nicht gehen ließt, weil du nicht wolltest, dass das Krankenhaus den Sozialdienst verständigt? Wir waren an jenem Abend bereit, getrennt zu werden, nur um Hilfe holen zu können.«
»Sie wurde wieder gesund!«
»Weil wir die ganze Nacht aufgeblieben sind, ihr kalte Bäder und Paracetamol verabreicht haben!«
Matthew sah uns verständnislos an.
»Du kannst dich kein bisschen daran erinnern«, sagte Tolliver. »Auch nicht daran, dass wir unter dem Wohnwagen schlafen mussten, weil lauter Freunde von dir da waren. Oder daran, dass du keinen Krankenwagen rufen wolltest, als Harper vom Blitz getroffen wurde.«
»Daran erinnere ich mich durchaus.« Matthew sah Tolliver direkt in die Augen. »Du hast ihr an jenem Tag das Leben gerettet. Du hast sie wiederbelebt.«
»Und du hast gar nichts getan«, sagte ich.
»Ich habe deine Mutter geliebt«, verkündete er.
»Ja, und ich weiß es auch sehr zu schätzen, dass du für sie da warst, als es mit ihr zu Ende ging«, erwiderte ich. »Als sie allein starb und du mal wieder im Knast warst.«
»Und wo warst du?«, schoss es blitzschnell aus ihm hervor.
»Ich habe nie behauptet, sie zu lieben.«
»Warst du auf der Beerdigung?«
Wenn er glaubte, mich so mit Schmutz bewerfen zu können, würde ich ihn eines Besseren belehren. »Nein. Ich gehe grundsätzlich nicht auf Beerdigungen. Aus verständlichen Gründen.«
Matthew begriff immer noch nicht. Er musste in den letzten Jahren einige graue Zellen verloren haben. Anstelle einer Frage sah er mich mit zusammengekniffenen Augen an.
»Die vielen Toten. Das ist wirklich ein Problem für mich.«
»Ach, Quatsch! Mach mir doch nichts vor! Ich bin’s, Matthew. Ich kenne dich. Du kannst andere übers Ohr hauen, aber nicht mich.« Matthew zwinkerte mir zu, als wären wir Teil einer Verschwörung.
»Verschwinde!«, sagte Tolliver.
»Ach, komm schon, Sohn!«, sagte Matthew ungläubig. »Du willst mir doch nicht weismachen, dass die Sache mit dem Leichenfinden stimmt? Das kannst du sonst wem erzählen! In Wahrheit ist deine Schwester doch bloß so eine esoterische Spinnerin.«
»Sie ist nicht meine Schwester, zumindest nicht direkt«, sagte Tolliver. »Wir sind ein Paar.«
Matthew wurde puterrot. Er sah aus, als müsste er sich gleich übergeben. »Du machst mich krank!«, sagte er und bereute es auf der Stelle.