»Sie müssen nach unten schauen, während ich dieses Stück hier entferne«, sagte sie schließlich. Und als ich nach unten sah, spürte ich, wie alle Anspannung aus ihr wich. Ich musste sie angestarrt haben. Ich wünschte, ich könnte meinen Körper verlassen und auf den Flur schweben, um nach meinem Liebsten zu sehen. Wenn ich schwor, ihn aufzugeben, für den Fall, dass er überlebte – würde das etwas nutzen? Schwüre, die man macht, wenn man wirklich Angst hat, zeigen den wahren Charakter. Vielleicht auch nur die primitive Natur des Menschen. Jenes Menschen, der noch nie ein Einkaufszentrum gesehen, noch nie ein Gehalt bekommen und die Nahrungsbeschaffung noch nicht an andere delegiert hat.
Eine Frau in einem knallrosa Kittel fragte, ob sie jemanden verständigen solle. Jemanden, der sich um mich kümmern könne. Aber bei der Vorstellung, Iona oder Hank hier zu sehen, musste ich beinahe laut schreien, also sagte ich Nein.
Sie ließen seinen Dad zu ihm, aber nicht mich! Mir musste man die Glassplitter entfernen. Ich war so wütend, dass ich fürchtete, mein Kopf könnte explodieren. Aber ich schrie nicht. Ich behielt alles für mich. Nachdem die Ärztin und die Krankenschwester mit mir fertig waren und mir ein paar Tabletten gegeben hatten, weil sie glaubten, dass ich mich noch eine Weile unpässlich fühlen würde, nickte ich ihnen zu und machte mich auf die Suche nach Tolliver. Ich entdeckte Matthew im Wartezimmer, er sprach gerade mit einem Polizisten.
Er sah mich an, als ich hereinkam, und ich sah das Misstrauen in seinem Gesicht.
»Das ist Tollivers Stiefschwester. Sie war mit ihm im Raum und stand hinter ihm«, sagte Matthew wie ein Zeremonienmeister.
Der Polizist musste der Detective sein, da er eine Freizeithose, ein Hemd und eine Windjacke trug. Er war sehr groß und erinnerte mich an einen ehemaligen Footballstar, was sich tatsächlich bewahrheitete. Parker Powers war ein berühmter Highschool-Footballer aus Longview, Texas. Er hatte sich verletzt, als er gerade zwei Jahre bei den Dallas Cowboys unter Vertrag gewesen war. Das machte ihn beinahe zu einem Star, zumindest war er prominent. Dank Matthew Lang erfuhr ich das alles in den ersten zehn Minuten unserer Begegnung.
Detective Powers hatte einen mittelbraunen Teint und hellblaue Augen. Sein Haar war hellbraun, gelockt und kurz geschnitten. Er trug einen Ehering.
»Wer, glauben Sie, hat auf Sie geschossen?«, fragte er mich direkter als erwartet.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte ich. »Ich hätte Matthew vermutet, wenn er nicht so schnell zurück ins Motelzimmer gekommen wäre.«
»Warum sein Vater?«
»Wer sollte sonst ein Interesse daran haben?«, fragte ich, wobei mir auffiel, dass das nicht gerade schlüssig klang. »Gut, es gibt viele Leute, denen nicht gefällt, was wir tun. Aber wir sind ehrlich und machen uns keine Feinde. Zumindest nicht, dass ich wüsste. Aber anscheinend haben wir uns mindestens einen gemacht.« Es war mir ein Rätsel, ob die Polizei irgendetwas von dem, was ich da erzählte, verstand. Aber wahrscheinlich hatte ich irgendwann erklärt, was Tolliver und ich taten. Auch wenn ich mich nicht daran erinnern konnte.
Detective Powers absolvierte das übliche Frage-und-Antwort-Spiel. Er wollte wissen, womit wir unser Geld verdienten, seit wann wir das taten, wie viel wir verdienten und was unser letzter Auftrag gewesen war. Ich musste tatsächlich kurz überlegen, aber dann fiel mir der Besuch bei den Joyces wieder ein, und ich erzählte ihm davon. Es schien ihm gar nicht zu behagen, dass wir mit einer so wohlhabenden, mächtigen Familie zu tun gehabt hatten.
Ein Arzt kam herein, ein älterer Mann mit einem spärlichen Haarkranz und einem müden Gesicht. Ich sprang sofort auf.
»Gehören Sie zur Familie Lang?« Er sah von mir zu Matthew. Mir hatte es die Sprache verschlagen, und Matthew nickte.
»Ich bin Dr. Spradling und Orthopädiechirurg. Ich habe Mr Lang soeben operiert. Im Großen und Ganzen habe ich gute Neuigkeiten. Mr Lang wurde von einer kleinkalibrigen Kugel getroffen, wahrscheinlich aus einem .22er-Gewehr oder einer Pistole. Sie ist in seine Clavicula, sein Schlüsselbein, eingedrungen.«
Ich rang nach Luft, ich konnte nichts dagegen tun. Ich benahm mich wie eine Idiotin.
»Also habe ich die Clavicula verschraubt. Nerven oder Blutgefäße wurden keine verletzt, er hat also Glück gehabt – wenn man das über einen Angeschossenen überhaupt sagen kann. Er hat die Operation gut überstanden«, sagte der Arzt. »Ich glaube, er wird sich gut erholen. Jetzt muss er erst mal zwei oder drei Tage im Krankenhaus bleiben. Wenn alles gut geht und keine Komplikationen auftreten, können wir ihn entlassen. Aber er wird anschließend noch eine Woche lang intravenös Antibiotika erhalten müssen. Wir können eine Schwester vorbeischicken, die das übernimmt, aber Sie müssen in der Nähe bleiben, auch wenn Sie eigentlich gar nicht hier leben.« Er fixierte mehr oder weniger den Raum zwischen uns und wartete auf eine Reaktion.
Ich nickte hektisch, zum Zeichen, dass ich alles verstanden hatte. »Ganz wie Sie meinen«, sagte ich zu Dr. Spradling.
»Wo wohnen Sie, Miss Connelly? Soweit ich weiß, leben Sie zusammen?«
Ich warf einen kurzen Blick auf Matthew und befürchtete schon, er könnte sich um Tollivers Pflege reißen. Eine Riesenangst verdrängte alle anderen Ängste: Würden sie mich überhaupt zu ihm lassen, wenn Matthew etwas dagegen hatte? Ich musste Matthews Vaterschaft überbieten. Ich machte den Mund auf und staunte selbst nicht schlecht, als ich dem Arzt völlig unvermittelt erklärte: »Wir sind ein Paar. Wir führen eine Lebensgemeinschaft.« Texas erkannte auch Ehen ohne Trauschein an. Die Lebensgefährtin könnte die Stiefschwester ausstechen. »Wir haben eine Wohnung in St. Louis. Wir sind seit sechs Jahren zusammen.«
Dem Arzt war das vollkommen egal. Er wollte mir nur mitteilen, was Tollivers Pflege beinhaltete. Er drehte sich leicht zu mir: »Sie sollten eine Unterkunft finden, die näher am Krankenhaus liegt. Zumindest so lange, bis er nach seiner Entlassung etwas zu Kräften gekommen ist. Er ist noch nicht übern Berg, aber es wird schon alles gut gehen.«
»Gut.« Ich ließ mir das, was er gesagt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen und hoffte, nichts vergessen zu haben: ein zerschmettertes Schlüsselbein, eine kleinkalibrige Kugel, keine weiteren Verletzungen. Drei Tage im Krankenhaus. Antibiotika, die eine Schwester intravenös im Hotel verabreichen würde. In einem näher gelegenen Hotel.
»Sie können bei mir und ihrem Bruder wohnen, wenn es sein muss«, sagte Matthew, und der Arzt, der sich eindeutig nicht für solche Details interessierte, nickte. Das würden wir ganz bestimmt nicht tun, aber das war jetzt nicht der geeignete Augenblick, um das zu besprechen.
»Hauptsache, es ist jemand da, der sich um ihn kümmert. Er muss ruhig und bequem liegen, sollte mehrmals am Tag aufstehen und etwas spazieren gehen, seine Medikamente regelmäßig einnehmen, keinen Alkohol trinken und sich gesund ernähren«, sagte der Arzt. »Aber wie gesagt nur, wenn er sich gut macht. Morgen sehen wir weiter.« Dr. Spradling wollte sicherstellen, dass wir ausreichend gewarnt waren.
Ich nickte heftig und zitterte vor Angst.
»Ich werde heute Nacht bei ihm bleiben«, sagte ich, und der Arzt, der sich schon halb abgewandt hatte, rang sich einen mitleidigen Blick ab.
»Da er gerade erst operiert wurde, wird heute Nacht ständig nach ihm gesehen«, sagte der Arzt. »Er wird auch noch nicht aufwachen. Sie sollten lieber nach Hause gehen, duschen und morgen früh wiederkommen. Wenn Sie Ihre Telefonnummer dalassen, wird man Sie benachrichtigen, falls Probleme auftreten.«